Die Rückkehr des Tanzlehrers
Das war der Krieg. Jetzt wußte er, daß Fernando Hereira seinen Vater gerächt hatte. Er hatte außerdem von einer Reise gesprochen, die viel zu lang gewesen war. Und vielleicht das Wichtigste von allem: Außerdem gibt es noch einen Menschen, mit dem ich sprechen will. Noch jemand außer mir, dachte Stefan. Wer?
»Sie haben Josef Lehmann gehängt«, sagte die Stimme plötzlich. »Irgendwann im Herbst 1945. Das war richtig. Er hat im Verlauf des grauenhaften Terrors, den er in verschiedenen Konzentrationslagern ausgeübt hat, viele Menschen getötet. Aber sie hätten auch seinen Bruder, Waldemar Lehmann, aufhängen sollen. Er war noch schlimmer. Zwei Brüder. Zwei Ungeheuer, die ihrem Herrn dadurch dienten, daß sie Menschen zum Schreien brachten. Einer von ihnen wurde mit einem Strick um den Hals bestraft. Der andere verschwand, und er kann, falls die Götter unbegreiflich nachlässig gewesen sind, immer noch leben. Ich habe manchmal geglaubt, ihn auf der Straße zu sehen, weiß aber nicht, wie er aussieht. Es gibt keine Fotos von ihm. Er war vorsichtiger als sein Bruder Josef. Das rettete ihn. Außerdem brachte es ihm größere Befriedigung, andere die widerlichen Taten ausführen zu lassen. Er hat Menschen beigebracht, sich wie Ungeheuer zu verhalten. Er hat die Handlanger des Todes ausgebildet.«
Es kam wie ein Schluchzen, oder Seufzen. Der Mann bewegte sich wieder. Es knarrte. Stefan hatte das Geräusch schon einmal gehört. Ein Stuhl, oder vielleicht ein Sofa, das auf die gleiche Art und Weise knarrte. Aber er hatte nicht selbst darauf gesessen.
Er fuhr zusammen. Jetzt wußte er es.
Er hatte schon einmal auf genau dem Stuhl gesessen, auf dem er jetzt festgebunden war.
»Ich will nach Hause fahren«, sagte die Stimme. »Zu dem, was mir von meinem Leben noch bleibt. Aber zuerst muß ich wissen, wer Abraham Andersson getötet hat. Ob ich Schuld daran habe, daß das geschah. Ich kann es nicht ungeschehen machen, aber ich kann für den Rest meines Lebens eine Kerze vor der Heiligen Jungfrau brennen lassen und um Vergebung bitten.«
»Sie fuhren in einem blauen Golf«, sagte Stefan. »Plötzlich ist jemand auf die Straße getreten und hat geschossen. Sie sind entkommen. Ob Sie unverletzt sind, kann ich nicht sagen. Aber derjenige, der auf Sie geschossen hat, kann auch derjenige gewesen sein, der Abraham Andersson getötet hat.«
»Sie wissen viel«, sagte die Stimme, »aber Sie sind Polizist. Sie müssen es wissen. Sie müssen alles tun, um mich zu fangen. Auch wenn es jetzt umgekehrt gewesen ist und ich Sie gefangen habe. Ich bin unverletzt. Sie haben recht, ich hatte Glück. Ich kam aus dem Wagen, ohne getroffen zu werden. Ich versteckte mich für den Rest der Nacht im Wald, bevor ich es wagte, weiterzufahren.«
»Sie müssen einen Wagen gehabt haben.«
»Ich werde für das Auto bezahlen, das zerschossen wurde. Wenn ich nach Hause komme, werde ich Geld dafür schik-ken.«
»Ich meine hinterher. Sie müssen noch einen Wagen gehabt haben.«
»Den habe ich bei einem Haus am Waldrand gefunden. Ob ihn jemand vermißt, weiß ich nicht. Das Haus schien verlassen zu sein.«
Stefan hörte eine schwache Andeutung von Ungeduld in der Stimme des Mannes. Er sah ein, daß er noch vorsichtiger sein mußte mit dem, was er sagte. Er hörte das Klirren einer Flasche. Ein Schraubverschluß wurde aufgedreht. Ein paar Schlucke, aber kein Glas, dachte Stefan. Er trinkt direkt aus der Flasche. Ein schwacher Geruch nach Alkohol breitete sich im Raum aus.
Danach erzählte der Mann, was damals, vor vierundfünfzig Jahren, geschehen war. Eine kurze Geschichte. Klar, deutlich und absolut grauenhaft.
»Waldemar Lehmann war ein Meister. Ein Meister darin, Menschen zu quälen. Eines Tages trat Herbert Molin in sein Leben. Einzelheiten weiß ich nicht. Es dauerte auch, bis ich Höllner traf, bevor mir klar wurde, wer meinen Vater getötet hatte. Aber was ich danach in Erfahrung bringen konnte, war genug dafür, daß es notwendig und gerecht war, Herbert Molin zu töten.«
Die Flasche klirrte wieder. Der Geruch von Alkohol. Weitere Schlucke. Der Mann, der hier sitzt, ist dabei, sich zu betrinken, dachte Stefan. Wird er die Kontrolle darüber verlieren, was er tut?
Seine Angst nahm zu. Ihm war, als bekomme er Fieber.
»Mein Vater war Tanzlehrer. Ein friedfertiger Mann, der es liebte, Menschen das Tanzen beizubringen. Besonders den jungen und schüchternen. Eines Tages kam Herbert Molin als Schüler zu ihm. Offenbar hatte er eine
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