Die Rückkehr des Tanzlehrers
wie angewurzelt stehen.
Zuerst war ihm nicht klar, was er da sah. Etwas Weißes leuchtete zwischen den Bäumen. Dann erkannte er zu seinem Entsetzen, daß es Abraham Andersson war. Er war nackt an einen Baum gefesselt. Der Brustkorb war mit Blut bedeckt. Die Augen waren offen und starrten ihn an.
Aber der Blick war genauso tot wie Abraham Andersson selbst.
Teil 2
DER MANN AUS BUENOS AIRES
Oktober - November 1999
Als Aaron Silberstein erwachte, wußte er nicht, wer er war. Zwischen dem Traum und der Wirklichkeit lag eine Nebelbank, die er durchdringen mußte, um zu erfahren, ob er in diesem Augenblick Aaron Silberstein oder Fernando Hereira war. In seinen Träumen wechselten sich beide Namen häufig ab. Jedes Erwachen bedeutete einen Augenblick großer Verwirrung. Und dieser Morgen machte keine Ausnahme. Er zog den Arm aus dem Schlafsack und schaute auf die Uhr. Ein paar Minuten nach neun. Er horchte. Draußen war es still. Am Abend zuvor war er, kurz nachdem er durch eine Stadt namens Falköping gefahren war, von der Hauptstraße abgebogen. Dann war er durch eine kleine Ortschaft namens Gudhem gekommen und hatte den Feldweg gesehen, der in den Wald führte.
Dort erwachte er jetzt mit dem Gefühl, daß er sich aus seinen Träumen losreißen müßte. Es regnete. Nicht stark oder anhaltend, sondern spärlich tröpfelnd, hin und wieder fielen dicke Tropfen auf das Zeltdach. Um die Wärme zu halten, zog er den Arm wieder in den Schlafsack. Jeden Morgen war er von der gleichen Sehnsucht nach Wärme erfüllt. Schweden war ein kaltes Land. Das hatte er im Laufe seines langen Aufenthaltes gelernt. Aber bald würde es vorüber sein. Heute würde er nach Malmö fahren. Dort würde er das Auto stehenlassen, sich des Zeltes entledigen und eine Nacht im Hotel verbringen. Früh am nächsten Tag würde er nach Kopenhagen hinüberfahren, um sich am Nachmittag in eine Maschine zu setzen, die ihn über Frankfurt und Sao Paulo zurück nach Buenos Aires bringen würde.
Er räkelte sich im Schlafsack und schloß die Augen. Noch brauchte er nicht aufzustehen. Sein Mund war trocken, und er hatte Kopfschmerzen. Gestern abend bin ich über die Grenze gegangen, dachte er. Ich habe zu viel getrunken. Mehr als ich zum Einschlafen gebraucht hätte.
Die Versuchung war groß, den Rucksack zu öffnen und eine der Flaschen herauszuholen. Aber er durfte nicht riskieren, in eine Polizeikontrolle zu geraten. Bevor er aus Argentinien abgereist war, hatte er die schwedische Botschaft in Buenos Aires besucht, um sich nach den Verkehrsbestimmungen in Schweden zu erkundigen. Ihm war klargeworden, daß es beim Fahren mit Alkohol im Blut so gut wie keine Toleranz gab. Das hatte ihn gewundert, weil er einmal einen Zeitungsartikel darüber gelesen hatte, daß die Schweden viel tranken und häufig betrunken auftraten. Aber es gelang ihm, dem Bedürfnis nach Alkohol zu widerstehen. Er wollte auf keinen Fall nach Alkohol riechen, falls die Polizei ihn anhielt.
Das Licht sickerte durch den Zeltstoff. Er dachte an den Traum, den er in der Nacht gehabt hatte. Darin war er wieder Aaron Silberstein gewesen. Er war noch ein Kind, und sein Vater Lukas war noch in seiner Nähe. Sein Vater war Tanzlehrer und empfing seine Schüler zu Hause in ihrer Wohnung in Berlin. Er wußte, daß es in dem letzten, entsetzlichen Jahr gewesen sein mußte, weil sich der Vater im Traum den Schnurrbart abrasiert hatte. Er hatte es ein paar Monate vorher getan. Ein paar Monate bevor die Katastrophe eingetreten war. Sie hatten in dem einzigen Zimmer gesessen, in dem die Fensterscheiben noch nicht zerbrochen waren. Nur Aaron und sein Vater. Die anderen in der Familie waren verschwunden. Und sie hatten gewartet. Sie hatten geschwiegen und gewartet. Sonst nichts.
Noch nach fünfundfünfzig Jahren dachte er, daß seine ganze Kindheit ein einziges langgezogenes Warten gewesen war. Warten und Schrecken. All das Grauenhafte, das Furchtbare, das draußen auf den Straßen passiert war, wenn nachts der Fliegeralarm losging und sie hinunter in den Keller stürzten, hatte eigentlich keine Spuren bei ihm hinterlassen. Es war dieses Warten, das sein Leben bestimmt hatte.
Er kroch aus dem Schlafsack. Suchte eine Kopfschmerztablette und die Wasserflasche. Er sah auf seine Hände. Sie zitterten. Er nahm die Tablette in den Mund und spülte sie hinunter. Dann krabbelte er aus dem Zelt und pinkelte. Der Boden war feucht und kalt unter seinen nackten Füßen. In vierundzwanzig Stunden bin ich weg hier,
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