Die Rückkehr des Tanzlehrers
dachte er. Fort von dieser Kälte, den langen Nächten. Er kroch wieder ins Zelt. Tief in den Schlafsack. Zog ihn bis zum Kinn zu. Die Versuchung, einen Schluck aus einer seiner Schnapsflaschen zu nehmen, war die ganze Zeit lebendig. Aber er würde warten. Er war bis hierhin gekommen und hatte nicht die Absicht, unnötige Risiken einzugehen.
Der Regen draußen nahm plötzlich zu. Es ist gegangen, wie es gehen mußte, sagte er sich. Ich habe über fünfzig Jahre lang auf diesen Augenblick gewartet. Ich hatte fast, aber nur fast, die Hoffnung aufgegeben, die Erklärung und die Lösung dafür zu finden, was mein Leben zerstört hat. Dann ist etwas eingetreten, was ich nie erwartet hätte. Durch einen vollkommen unbegreiflichen Zufall hat ein Mensch meinen Weg gekreuzt, der mir ein wichtiges Puzzleteil dazu geben konnte, was eigentlich geschehen war. Ein Zusammentreffen, das unmöglich hätte sein sollen.
Er nahm sich vor, den Friedhof, auf dem Höllner lag, zu besuchen und Blumen auf sein Grab zu legen, sobald er wieder in Buenos Aires wäre. Ohne ihn hätte er seinen Auftrag nie ausführen können. Irgendwo gab es doch eine mystische, vielleicht göttliche Gerechtigkeit, die dafür gesorgt hatte, daß er Höllner vor dessen Tod getroffen und von ihm Antworten auf seine Fragen erhalten hatte. Die Erkenntnis dessen, was damals geschehen war, hatte ihm einen Schock versetzt. Nie zuvor in seinem Leben hatte er so viel getrunken wie in der Zeit unmittelbar nach ihrem Zusammentreffen. Aber dann, als Höllner bereits tot war, hatte er sich gezwungen, wieder nüchtern zu werden. Das Trinken zu reduzieren. Er hatte seine Arbeit wieder aufgenommen und einen Plan geschmiedet.
Und nun war alles vorbei.
Während der Regen aufs Zelt prasselte, ging er in Gedanken noch einmal das Geschehene durch.
Er hatte Höllner im La Cabana kennengelernt. Das Restaurant hatte an jenem Abend besonders viele Gäste. Filip Mon-teiro, der alte Kellner mit dem Emailleauge, hatte ihn gefragt, ob es ihm recht wäre, wenn noch jemand an seinen Tisch käme. Dann hatte Höllner ihm gegenüber Platz genommen. Er war schon damals von dem Magenkrebs gezeichnet gewesen, der ihn später töten sollte.
Das war jetzt über zwei Jahre her.
Sie hatten natürlich sogleich feststellen können, daß sie beide aus Deutschland eingewandert waren. Sie hatten den gleichen Akzent. Er war darauf gefaßt gewesen, daß Höllner der großen Gruppe Deutscher angehörte, die über gut organisierte Seilschaften nach Argentinien gekommen war. Es gab genug Nazis, die das zusammengestürzte tausendjährige Reich unbehelligt hatten verlassen können. Aaron hatte seinen richtigen Namen zunächst nicht genannt. Höllner hätte sehr wohl einer von denen sein können, die mit falschen Papieren illegal eingereist waren. Von irgendeinem der U-Boote an Land gesetzt, die im Frühjahr 1945 vor der argentinischen Küste gekreuzt waren. Er hätte von einer der Nazigruppen, die von Schweden, Norwegen und Dänemark aus operierten, unterstützt worden sein können. Oder er konnte später gekommen sein, als Juan Peron seine Arme ausgebreitet und deutsche Einwanderer aufgenommen hatte, ohne jemals irgendwelche Fragen nach ihrer Vergangenheit zu stellen. Aaron wußte, daß Argentinien voller untergetauchter Nazis war. Kriegsverbrecher, die in Angst davor lebten, gefaßt zu werden. Menschen, die niemals Abbitte geleistet hatten. Bei denen zu Hause immer noch eine Hitlerbüste auf einem Ehrenplatz stand.
Aber Höllner gehörte nicht dazu. Er hatte vom Krieg als von der Katastrophe gesprochen, die er gewesen war. Aaron hatte bald verstanden, daß Höllners Vater zwar ein hoher Nazi gewesen, Höllner selbst aber einer der vielen Einwanderer war, die ganz einfach in Argentinien eine bessere Zukunft zu finden hofften als im verwüsteten Europa.
Sie hatten an jenem Abend im La Cabana den Tisch geteilt. Aaron erinnerte sich noch, daß sie das gleiche Gericht bestellt hatten. Eine Fleischspeise, die im La Cabana besser zubereitet wurde als irgendwo sonst. Hinterher waren sie gemeinsam durch die Stadt gegangen, denn sie hatten den gleichen Weg nach Hause. Er selbst wohnte in der Avenida Corrientes und Höllner ein paar Blöcke weiter. Sie hatten verabredet, sich wieder zu treffen. Höllner hatte erzählt, daß er Witwer war. Seine Kinder waren nach Europa zurückgekehrt. Er hatte bis vor kurzem eine Druckerei besessen, die er aber mittlerweile verkauft hatte. Aaron hatte ihn eingeladen, in die
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