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Die Rückkehr des Tanzlehrers

Die Rückkehr des Tanzlehrers

Titel: Die Rückkehr des Tanzlehrers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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mußte.
    Er streckte sich auf dem Bett aus. Die Gedanken trieben leichter, seit er den Cognac im Blut hatte. Was geschehen war, hatte schon angefangen, zu Erinnerung zu werden. Jetzt sehnte er sich danach, in seine Werkstatt zurückzukommen. Die enge Werkstatt auf der Rückseite des Hauses an der Avenida Corrientes. Dies war die Kathedrale, in die er jeden Morgen ging. Natürlich gab es auch noch seine Familie. Die Kinder waren mittlerweile erwachsen. Dolores war nach Montevideo gezogen und würde bald seinen ersten Enkel zur Welt bringen. Rahel studierte noch und wollte Ärztin werden. Markus, der unruhige Sucher, träumte davon, Dichter zu werden, und hielt sich zur Zeit damit über Wasser, für die Reporter eines gesellschaftskritischen Programms im argentinischen Fernsehen Recherchen durchzuführen. Aaron liebte seine Frau Maria und seine Kinder. Trotzdem war die Werkstatt der eigentliche Mittelpunkt seines Lebens. Jetzt würde er bald zurück sein. Herbert Molin war tot. Vielleicht würden ihn endlich all die Ereignisse, die ihn seit 1945 verfolgt hatten, in Frieden lassen.
    Er blieb eine Weile liegen. Dann und wann streckte er den Arm nach der Cognacflasche aus. Mit jedem Schluck trank er schweigend auf Höllner. Ohne ihn wäre dies alles nicht geschehen. Ohne Höllner wäre er nie der Wahrheit auf die Spur gekommen, wer seinen Vater getötet hatte. Er stand auf, nahm den Rucksack und kippte ihn aus. Der gesamte Inhalt landete auf dem Fußboden. Er bückte sich und hob das Tagebuch auf, das er in den dreiundvierzig Tagen, die er in Schweden verbracht hatte, geführt hatte. Eine Seite für jeden Tag. Dennoch befand er sich schon auf Seite fünfundvierzig. Er hatte im Flugzeug, das ihn nach Frankfurt und von dort nach Kopenhagen gebracht hatte, zu schreiben begonnen. Er ging zurück zum Bett, machte die Leselampe an und blätterte das Buch langsam durch. Hier stand die ganze Geschichte. Er hatte sie aufgeschrieben, um sie einmal seinen Kindern zu geben. Aber sie sollten sie erst lesen, wenn er tot war. Es war die Geschichte seiner Familie, die er niedergeschrieben hatte. Er hatte versucht zu erklären, warum er tun mußte, was er getan hatte. Was er seiner Frau als eine Reise nach Europa beschrieben hatte, um ein paar Möbeltischler zu besuchen und von ihnen etwas zu lernen, was er noch nicht konnte, war in Wirklichkeit etwas ganz anderes. Eine Reise zurück in seine Vergangenheit. Im Tagebuch hatte er dies als eine Tür beschrieben, die geschlossen werden mußte. Jetzt, als er dalag und das Buch durchblätterte, kamen ihm plötzlich Zweifel. Seine Kinder würden vielleicht nicht verstehen, warum ihr Vater die lange Reise gemacht hatte, um einen alten Mann zu ermorden, der allein in einem Wald lebte.
    Er ließ das Buch auf den Fußboden fallen und nahm noch einen Schluck Cognac. Es war der letzte, bevor er sich ankleiden würde, um auszugehen und etwas zu essen. Zum Essen würde er sowieso wieder Wein trinken. Was noch in der Flasche war, würde er für die Nacht und den Morgen brauchen.
    Er spürte, daß er betrunken war. Wäre er in Buenos Aires, würde Maria ihn schweigend und vorwurfsvoll ansehen. Aber hier brauchte er sich nicht darum zu kümmern. Am nächsten Tag würde er nach Hause fahren. Dieser Abend gehörte nur ihm und seinen Gedanken.
    Um halb sieben stand er auf, zog sich an und verließ das Hotel. Der harte und kalte Wind packte ihn, als er auf die Straße hinaustrat. Eigentlich wollte er einen Spaziergang machen, aber das Wetter ließ ihn die Lust verlieren. Er schaute sich um. Ein
    Stück die Straße hinunter schaukelte ein Restaurantschild im Wind. Er ging dorthin, aber als er das Lokal betrat, zögerte er. Ein Fernseher in einer Ecke zeigte Eishockey und war sehr laut gestellt. An einem Tisch davor saßen ein paar Männer, tranken Bier und verfolgten das Spiel. Er ahnte, daß das Essen in diesem Lokal nicht besonders gut wäre, wollte aber nicht wieder in die Kälte hinaus. Er setzte sich an einen freien Tisch. Am Tisch neben ihm saß ein einsamer Mann und starrte auf sein fast leeres Bierglas. Die Kellnerin kam mit einer Karte, und er bestellte ein Beefsteak mit Sauce bearnaise und Pommes frites. Dazu eine Flasche Wein. Er trank nie etwas anderes als Rotwein und Cognac. Nie Bier. Nie irgend etwas anderes.
    »I hear that you speak English«, sagte der Mann mit dem Bierglas plötzlich.
    Aaron nickte. Er hoffte inständig, daß der Mann neben ihm kein Gespräch beginnen würde. Er wollte seine

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