Die Rückkehr des Zweiflers - Covenant 08
entziehen; er hatte Roger in eine ganz neue Art Halbhand verwandelt ...
Die Wahrheit über den Mann, der sie hier hergebracht hatte, entsetzte sie zutiefst. Rogers Auftauchen anstelle seines Vaters übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Trotzdem war der Anblick ihres Sohns noch schlimmer.
Auch Jeremiah war maskiert gewesen. Jetzt trat sein jämmerlicher Zustand wieder deutlich hervor. Der Junge stand da und glotzte sie blöde an oder durch sie hindurch, als nehme er sie gar nicht wahr. Ihr helles Feuer schien ihn zu blenden. Sein Mund hing offen, die Unterlippe war schlaff. Sabber lief ihm über das Kinn. Das Zucken in seinem Augenwinkel war verschwunden, von seinen ausdruckslosen Gesichtszügen radiert. Linden sah mit einem Blick, dass er wieder in seine frühere passive Dissoziation verfallen war.
Aber das war nicht alles ...
Trotz dieser offenkundigen Passivität baumelten seine Arme nicht an seinen Seiten. Stattdessen waren seine Fäuste vor dem Körper erhoben. Die rechte Hand, seine Halbhand, umklammerte den roten Rennwagen mit solcher Kraft, dass sie das Blech zerdrückt hatte. In der linken Hand hielt er ein Stück Holz, das schlank und spitz wie ein Stilett war: einen Splitter des dürren Holzes, das er sich aus der Würgerkluft geholt hatte. Von seinen Schultern hing der blaue Schlafanzug zerfetzt herab. Pferde bäumten sich auf den Fetzen auf, wurden durch Schnitte zerteilt, stürzten. Brust und Arme waren mit verfärbten Prellungen bedeckt. Aber das Blau-Grün dieser Blutergüsse konnte nicht verbergen, mit welcher Gewalt die Kugeln sein Fleisch durchbohrt hatten. Aus gezackten Wunden, einmal im Magen, einmal direkt über dem Herzen, sickerte dunkles Blut, das seinen Oberkörper mit einem Netz aus halb geronnenen Blutfäden überzog, ehe es zuletzt im Bund seiner Pyjamahose verschwand.
Er war in seiner natürlichen Welt gestorben. Wie Linden; wie Joan. Er würde das Land nie mehr verlassen können.
Trotzdem war auch das noch nicht das Schlimmste ...
Ein unbehaartes kleines Wesen wie ein missgebildetes Kind klammerte sich an den Rücken des Jungen. Krallenartige Finger gruben sich in seine Schultern; spitze Zehen bohrten sich in seine Rippen. Es funkelte Linden mit bösartigen gelben Augen an, während seine Zähne unaufhörlich an Jeremiahs Halsseite nagten, damit es sein Leben trinken konnte. Und von diesem Wesen kamen Wellen einer unheimlichen Energie, die so grausam und bitter war, dass sie die Luft in Lindens Lunge in Asche zu verwandeln schien. Auf seine Art war das Wesen ebenso mächtig wie Roger. Seine Macht entsprach dem Potenzial für Brutalität und Verwüstung von Kasteness' abgetrennter Hand. Aber die Kraft dieses Wesens hatte mehr mit dem schwarzen Lehrenwissen der Gräuelinger als mit dem glutflüssigen Hunger der Skurj gemein – oder mit den getarnten Verwandlungen der Elohim. Dies war eine gänzlich anders geartete Bedrohung, eine Gefahr, die nur mit dem Weltübelstein und seinem Verstoß gegen das Gesetz vergleichbar war. Und trotzdem erkannte Linden sie augenblicklich. Ähnliche Magie, vergleichbare Wildheit hatte sie schon zweimal erlebt.
Das Wesen war ein Croyel: ein Dämon oder Schmarotzer, der davon gedieh, dass er natürlicheren Männern oder Frauen oder Tieren mehr Macht und längeres Leben gewährte, während er sie beherrschte. Findail der Ernannte hatte die Croyel einst folgendermaßen definiert: Kreaturen aus Hunger und Gier, die ihr Unwesen in den dunklen Ecken unserer Welt treiben. Wer sich mit ihnen verbündet, um langes Leben oder Macht zu erlangen, ist hoffnungslos verdammt.
Aber Jeremiah ist nicht verdammt, beteuerte Linden sich. Das war er nicht. Er war schließlich nicht Kasreyn von dem Wirbel; er hatte keinen Pakt geschlossen. Dazu wäre er nicht imstande gewesen. Völlig in sich gekehrt hatte er mehr Ähnlichkeit mit den Arguleh der Nordlandhöhen: hirnlose Eisbestien, die von den Croyel versklavt worden waren. Diesen Pakt hatte nicht Jeremiah, sondern Lord Foul geschlossen.
Trotzdem war ihr Sohn von einem Dämon besessen. Die Ranyhyn hatten ihr Bestes getan, um sie im Voraus zu warnen. Aber ihre Ängste hatten auf die Wüteriche abgezielt – oder auf den Verächter selbst. Jeremiahs wahre Gefährdung hatte sie nicht einmal andeutungsweise erkannt.
Vom Blut der Erde gestärkt, kreischte Linden wildes Feuer, das die felsige Tunnelröhre entlanglief, doch Lindens Flamme traf auf einen Hitzeschwall, als sei die Tür eines Schmelzofens geöffnet worden.
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