Die Ruhe Des Staerkeren
nach Venedig um und rechnete damit, um Mitternacht zurück in Triest zu sein.
Wenn er sich nur das Mittagessen mit den Kollegen in Rom gespart hätte, dann wäre er drei Züge früher gefahren und hätte damit seiner vierundachtzigjährigen Mutter und seiner Tochter Patrizia eine Überraschung bereitet, die schon seit dem frühen Morgen mit der Bahn von Salerno nach Norden unterwegs waren, um die Weihnachtstage mit der ganzen Familie zu verbringen. Sie hätten Augen gemacht, wenn er in Rom ganz unerwartet zugestiegen wäre. Wußten sie doch, daß er gestern in aller Herrgottsfrüh zu der Sicherheitskonferenz in die Hauptstadt geflogen war und versprochen hatte, heute mit dem Flugzeug so rechtzeitig wieder zu Hause zu sein, daß er sie samt ihrem schweren Gepäck am Gleis abholen konnte.
Proteo Laurenti stand in Mestre grollend auf dem seelenlosesten Bahnhof der Welt und studierte den Fahrplan. Soeben war ihm dank der Verspätung auch noch die vorletzte Regionalbahn, die an diesem Abend nach Triest ging, vor derNase abgefahren. In dem tristen Gebäude aus grauem Stahlbeton war nicht einmal mehr die Bar geöffnet, nur wenige Menschen standen auf den Bahnsteigen, und der nächste Zug fuhr erst in zweieinhalb Stunden. Mailand und Zürich, Verona und München standen noch zur Abfahrt. Was wäre, wenn er plötzlich eines dieser Ziele wählte und ganz ohne Ankündigung einfach für ein paar Tage verschwinden würde? Er schüttelte heftig den Kopf und brabbelte unwirsch vor sich hin. Und wie zur perfekten Ergänzung der Trostlosigkeit dieser verlassenen Bahnanlage, durch die fade Nebelschwaden zogen, näherten sich ihm zwei Uniformierte und kontrollierten seinen Ausweis. Diesmal kam er rasch davon, denn die Reise nach Rom zur Sicherheitskonferenz hätte er ohne Dienstausweis gar nicht erst antreten müssen. Die beiden Polizisten machten Augen, als er die Plastikkarte wieder einsteckte und sie dabei das Schulterhalfter unter seinem Jackett sahen. Sie murmelten ein buona sera , tauschten im Weitergehen ein paar Worte und nahmen einen dünnen, etwa vierzigjährigen Mann in einem ausgeleierten Anzug ins Visier, der mit sichtlicher Mühe sein Gepäck hinter sich herzog. Nachdem sie seinen unförmigen Koffer durchsucht hatten, der voller runder, im müden Neonlicht glänzender Metallbüchsen war, führten sie ihn ab. Die Kollegen in Mestre langweilten sich wohl, wenn sie sich für Konservendosen interessierten.
Proteo Laurenti stieg schließlich in den Zweite-Klasse-Waggon, der vor ihm zu halten kam und eine Station weiterfuhr: Venezia-Santa Lucia. Vielleicht war dort in Bahnhofsnähe noch ein Lokal für Touristen geöffnet, obgleich im Dezember in der Serenissima um diese Uhrzeit noch weniger los war als sonst schon. Die Einheimischen, die einst für ihr lebendiges Stadtleben bekannt gewesen waren, hatten ihr heruntergekommenes Eigentum längst lukrativ an solvente Ausländer verscherbelt und ihnen die aufwendige Renovierungüberlassen, waren aufs Festland gezogen und schimpften nun in hohen Tönen darüber, daß ihre geliebte und einst so stolze Heimatstadt immer mehr zu einer Art überteuertem Disneyland verkam und dort so gut wie keine echten Venezianer mehr lebten.
Laurenti war seit Jahren nicht in dieser Stadt gewesen, nicht einmal mehr zur Biennale war er mitgefahren, die seine Frau regelmäßig besuchte. Er gab die Schuld der Arbeit. Aber in Wahrheit kam ihm die Idee zu einem Ausflug nach Venedig meist erst, wenn er den Zeitungen entnahm, daß die soeben geschlossene Ausstellung ein großer Publikumserfolg gewesen sei. Jetzt hatte er also zweieinhalb Stunden Zeit, bis nach Mitternacht – hoffentlich – der letzte Zug nach Triest abfuhr und er gegen drei Uhr endlich ins Bett fallen durfte. Solange aber hatte er die Möglichkeit, sich wenigstens in den feuchten Gassen zwischen den maroden Palästen die Füße zu vertreten und sich dabei einen Schnupfen zu holen, anstatt, von allen guten Geistern verlassen, in dem gräßlichen Vorstadtbahnhof Mestre in Depressionen zu verfallen.
Venedig war dunkel, und selbst die Weihnachtsbeleuchtung war abgeschaltet. Außer den Lichtern an den Vaporetto-Anlegern wiesen nur wenige Laternen den Weg Richtung Cannaregio. Er fand endlich eine Bar, in der eine Gruppe amerikanischer Biertrinker das Klappern der Blechrollos vor der Tür hinauszögerte. Offensichtlich sah ihr Durst den rapide fallenden Dollarkurs voraus. Der Barkeeper, ein aufgeblasener Mittdreißiger mit kahlgeschorener
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