Die Ruhelosen
immer er in einem abgestoßenen Plüschsessel saß oder auch nur auf einem Holzklappstuhl und sich vor ihm ein Vorhang teilte, war seine Aufmerksamkeit wie elektrisiert.
Man müsste Theater machen können. Man müsste ein ganz Großer sein. Viel zu selten gab es Vorstellungen für Schüler und damit kostengünstige Gelegenheiten, eben diesen ganz Großen, Herrlichen, nah zu sein. Ihre Stimmen zu vernehmen, wie sie im Raume hängenblieben als Ausrufezeichen, ihre Gesten zu verfolgen, als malten sie Bildabfolgen in die Luft.
Er wusste, dass sie Gegenwelten zu schaffen vermocht hatten während der Kriegsjahre, dass sie sich gesammelt hatten im gleichsam als Auffangbecken dienenden ZürcherSchauspielhaus, all die Exilanten, und gegen den Wahnsinn angespielt hatten. Die Sohlen der Couragierten hatten die Bretter des Schauspielhauses geadelt, Namen wie Else Lasker-Schüler, Ferdinand Bruckner, Georg Kaiser, Ödön von Horváth, Therese Giehse und Ernst Ginsberg wirbelten dem Neunzehnjährigen durch den Kopf wie die Schneeflocken vor seinem Fenster.
»Ich hab’s! So kann es gehen!«, exklamierte er und stach mit dem Finger Löcher in die Wabe, die ihn umgab. Nunzio Amadeo spürte: Das wäre ein möglicher Weg hinaus.
Bereits am nächsten Tag nahm er Kontakt auf mit dem Direktor des Zürcher Schauspielhauses, Oskar Wälterlin: »Wie viel müsste ich bezahlen für eine Schüleraufführung von Goethes
Iphigenie auf Tauris
an einem Samstagnachmittag, an dem Sie keine Proben haben?«
»Nun, das sind 1500,00 Franken für die Plätze und noch einmal etwa 300,00 dazu für die Billettsteuer. Was schwebt Ihnen denn vor, junger Mann?«
»Ich möchte die Idee von Schüleraufführungen ins Mittelschulparlament bringen. Und Ihnen würde ich vierzehn Tage vor der geplanten Aufführung mitteilen, ob sie stattfinden kann oder nicht.«
»Nun, wir können das gerne einmal versuchen. Ihr jungen Leute braucht auch mehr als nur Schreibtischbildung, mir gefällt deine Idee.«
Nunzio sprach also kraft seines Amtes als Präsident des Mittelschulparlaments, eines Vereins, bei dem man »das Denken und das Diskutieren lernen kann«, einzeln bei den Rektoren der Schulen vor. Es gelang ihm, deren Einverständnis einzuholen, obwohl ihm jeder vom Ersten bis zum Letzten abriet. Aber Nunzio war nicht aufzuhalten.
Vier Wochen vor der geplanten Aufführung bot er in elf Mittelschulen Zürichs, Küsnachts und Winterthurs je zwei Schüler auf, die als Schulvertreter ebenfalls Mitglied desMittelschulparlaments waren. Diese sollten mit einer Anzahl von Formularen und Klassenbestellscheinen, welche sie wiederum den jeweiligen Klassenchefs übergeben würden, Bestellungen generieren, die Bestellscheine wieder einsammeln, die Angaben auf ein Sammelformular übertragen und das eingezogene Geld auf das Postscheckkonto des Mittelschulparlaments einzahlen; als Sold winkten den Schulvertretern je zwei Freikarten der Reihen 1 bis 5.
Aber Nunzio Amadeo Senigaglia wäre nicht Nunzio Amadeo Senigaglia gewesen, wenn dies an Organisation schon alles gewesen wäre. Ein ausgeklügeltes Preissystem ermöglichte ihm, eine unerwartet große Anzahl Interessenten auch wirklich zum Kauf eines Billetts zu motivieren. Entgegen dem Rat der Rektoren nämlich tüftelte er ganze neun Preiskategorien aus, die zwischen einem Franken und drei Franken und zehn Rappen lagen. »Und zwar aus folgender Überlegung: Wenn ein Mittelschüler für Plausch und Steckenpferd, für Kino oder Theater, ein Budget von sagen wir einmal 1,70 hat, und ich biete ihm wie bei den offiziellen, nicht subventionierten Schülervorstellungen nur drei Preiskategorien an, nämlich 80 Rappen, 1,30 und 1,80, dann würde ich im Falle besagten Mittelschülers 40 Rappen weniger einnehmen. Die wären dann gewissermaßen verschenkt.« Obgleich ihm selbst seine Logik als unzweifelbar erschien, vermochte er doch keinen der Rektoren zu überzeugen. Die schüttelten noch immer unisono den Kopf.
Was sollte er die eines Besseren belehren! Nunzio verkaufte abzüglich der Freikarten für die Schüler jeden einzelnen Platz der 995 Sitze – die 20 restlichen blieben für Dienstleute, Feuerwehr und Ärzte reserviert – und erzielte für sein Mittelschulparlament einen beachtlichen Gewinn. So viel, dass er bei der Stempelfabrik Speckert + Klein eigens einen Kategorienstempel hatte anfertigen lassen können,mit dem er den Billettsatz, den er an der Kasse des Schauspielhauses abholen ging, durchstempelte. Jeder Abdruck ein
Weitere Kostenlose Bücher