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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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auf der Milch schwimmt, wirkt bedrohlich. Er flüstert ihr beim hektischen Hinunterschlucken heimtückisch zu: Ich werde dir den Mund verkleben, den Hals, die Atmung, damit du daran erstickst. Aber der Nidel muss hinuntergeschluckt werden, sonst gibt es kein Brot, sonst gibt es Schläge auf die Finger. Oder schlimmer: Es droht einem das stundenlange Sitzen auf dem »Stillen Stuhl«. Und das ist doch so schwierig, so unendlich unmöglich, die zappeligen Beinchen stillzuhalten. Besonders, wenn die Füße den Boden nicht erreichen können. Und der Boden immer lockend ruft: Du kriegst mich nicht, du kriegst mich nicht. Du kriegst mich ja doch nicht, du nicht!
     
    Das Gretli, das so viel schluchzen muss, jede Nacht, bis man sie in ein anderes Zimmer legt, Emma weiß nicht, wohin, aber als das Gretli wiederkommt, schluchzt es nicht mehr. Allerdings sagt es auch sonst nichts mehr. Gretli hat die Sprache verloren, jeden einzelnen Ton. Und Emma lernt: Schluchzen bringt einen auch nicht zu den Eltern zurück.
     
    Zurück zu Maman und Papa. So oft sind sie schon umgezogen, dass Emma befürchtet, sie zu verlieren. Was, wenn die Maman jetzt wieder umzieht? Und Emma vergisst? Wie soll Emma da je zu ihr zurückfinden? Maman sagt, das viele
Umziehen, immer nur den Engagements nach, bekomme Emma nicht. Emma sei zwar ein Musikerkind, müsse aber dennoch Anstand und Beständigkeit lernen. Ein Kinderheim gibt ihr die nötige Stabilität im Leben, sagt sie.
     
    Und darum ist sie hier, bei Kindern, die keine Maman und keinen Papa mehr haben. Sie aber hat welche. Und doch ist sie hier.
     
    Sie wusste es doch ganz genau, dass da einmal ein Daheim gewesen war. In der Gellertstraße in Basel war das gewesen! Als sie, ebenfalls mit Rüschchen an den Söckchen und lackierten Schühchen, mit Hut und Schleife und dicht gelocktem Haar, mit dem Papa jeden Sonntagmorgen spazieren gegangen war, die Allee auf und ab, durch den Park und dann ins Café, wo der Papa seine Journaux lesen konnte, seine Zeitungen, eine nach der anderen, und französischen Milchkaffee trinken. Da war einmal ein Mann gewesen, der hatte Haare, die waren schlohweiß, und da hatte ihr der Papa erklärt, das kommt von den Sorgen. Und sie war auf den Mann zugegangen, furchtlos, traurig, voller Mitgefühl, und hatte ihn mit dem Händchen angestupst, am Jackenärmel gezupft und gesagt: »Es tut mir leid, dass Sie so viele Sorgen haben.« Und der Mann und Papa hatten freundlich gelacht.
     
    Fribourg. Das Sirren von Nähmaschinen. Die flinken Hände der Schneiderinnen. Ihre Freundin Eloise, ein Kind aus einer Familie, die von Armut befallen ist, so die Maman. Emma mit acht. Und all ihrer Liebe für die Freundin Eloise. Die Maman, die ihr immer wieder etwas zu essen einsteckt für Eloise, weil deren Tisch so kärglich bestückt sei, weil sie »unten wohnen«, in der Basse-Ville, inmitten von Menschen einer niederen Ordnung, minderwertig und händelsüchtig,
wie es hieß, und eben nicht oben in Fribourg wie sie. Weil sie Bolze sind und Bolze sprechen, kein ordentliches Französisch können, sondern nur den Armeleutedialekt. Eloise, die alles immer mit ihren neun Geschwistern teilt. Eloise, die immer so schön teilt mit ihren Schwestern, auch das Leid, das der Vater über sie bringt, wenn er sie nachts besuchen kommt. Und das der Brüder, das auch. Eloise, die sich »opfert«, »ich opfere mich für Emma«, es ist ein flehentlicher Aufstand gegen seine Hand, die sich Emmas eckige Schulter gegriffen hat. Aber Eloise siegt über ihn und verschwindet mit dem Vater für eine kurze Zeit. Danach darf Emma sogar dort zu Abend essen. Ein dunkles Gulasch gibt es, und alle mampfen sie glücklich, und der Vater mit jubilierendem Triumph im Blick, woher das Glück eines solchermaßen reich gedeckten Tisches? Und Emma mampft munter mit.
     
    Emma überlegte noch lang, ob das überhaupt stimmen konnte, ob das tatsächlich die Wahrheit war, dass der Vater den Barry geschlachtet hatte als Strafe dafür, dass man ihm die Emma vorenthalten hatte, was immer das auch heißen mochte: vorenthalten. Emma überlegte, ob er den Hund nicht einfach weggeschafft hatte, im Wald ausgesetzt, und sie wusste nicht, welcher Gedanke schlimmer war: der von Barry in ihrem Bauch oder der von Barry alleine in einem großen, dunklen Wald.
     
    Dann Boudry, Emma mit neun. Wieder ein Abschied, wieder das hastige Wittern von Gefahren, denen sie augenblicklich ausgesetzt ist. Mittlerweile kennt sie die furchtbaren

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