Die Ruhelosen
Strömungen, die von Menschen ausgehen können, ob von Männern, ob von Frauen. Sie ist sensibilisiert auf Macht. Sie spürt sie, wenn diese sich erst zusammendräut, sie spürt sie, wenn diese sogar noch schläft. Und sie erlebt die Ohnmacht
derer, die im Zentrum der Aufmerksamkeit der Oberin stehen und damit im Zielbereich der Macht, sie erlebt deren Furcht, als wäre es die eigene.
Emma erfindet sich jeden Tag neu. Nur, indem sie das Alte abstreift, kann sie überleben. Je nach Publikum, je nach Zusammensetzung der Zuhörerschaft, dichtet sie ihr Leben um. Sie wählt die Worte mit Bedacht, ultimative Schreckensworte, denn nur das Allerschlimmste kann sicherstellen, dass sie als zugehörig anerkannt wird. Sobald herauskommt, dass Emma eigentlich kein Waisenkind ist, dass sie Eltern hat, ist sie doppelt geächtet. Gehört nicht zu den Eltern, die haben sie ja weggegeben, gehört auch nicht hierher, weil: Du bist nichts Besonderes, dir ist ja nichts passiert!
Die Geschichten, die sie erfindet, werden immer schauriger. Sie will eben unbedingt doch dazugehören, alles ist besser als diese um sie geschlungene Einsamkeit, besser als ihr berstendes Sehnen, ihre abgrundtiefe Traurigkeit.
In den Weinbergen bei der Lese lacht sie mit den Buben. Die sind größer als sie und gröber, Emma gibt zurück, so gut sie kann, bis ihr Gesicht allmählich eindreckt und sie die Haarbüschel, die borstigen, nicht mehr unter dem Kopftuch halten kann. Die Gouvernante, die sie erblickt, ist eine gefürchtete. Ihr Bürzel betont die Klarheit und Strenge, die sie an den Tag legt und ihrerseits von »Gottes verlassenen Geschöpfen« fordert. Das wird Folgen haben, sagt sie. Und Emma weiß nicht, was das heißt.
Am Abend muss sie dann nackt durch den Trakt der Buben schreiten, einmal den Flur hoch und einmal den Flur hinunter, derweil die Buben, ohne einen Mucks zu machen, aber mit erstaunten, erschreckten, amüsierten, verlegenen, beschämten Gesichtern mehr schlecht als recht Spalier stehen.
Eine andere Nacht. Emma hatte sich für einen kleinen Jungen eingesetzt, dessen Hände von der Rebenlese ganz zerschlissen waren, spröd und blutig aufgesprungen. Das Gedicht, das nun alle lernen müssen, ist lang, sicher sechzehn Strophen. Jede Viertelstunde muss eines der Kinder der Gouvernante vortragen, wie weit es schon gekommen ist, und für jedes falsche Wort fliegt ihm eine Hand ins Gesicht. Emma sieht, wie ein paar vor lauter Schreck ohnmächtig werden. Und Emma lernt.
Dabei mache ich doch alles, was man von mir verlangt. Und ich kann so schön singen. Wenn das mein Papa wüsste, ich singe alle Schlager …
… durch Emmas Körper rieselte eine Welle, sie dachte an Caterina Valente, Conny Froboess, Lys Assia und diesen Neger, diesen Harry Belafonte, und ihre Lippen spitzten sich, ein Hauch von Luft, als sie ansetzte, standhaft
Banana Boat
zu pfeifen, derweil eine immer größer werdende Gestalt auf sie zuschritt, eine neue Oberin, Gouvernante, Heimleiterin, die fortan über sie würde herrschen dürfen, von ihr würde verlangen dürfen, strammzustehen mit durchgedrückten Knien, anstatt wie die wilde Jagd angerannt zu kommen, mit einem Strauß Wegwarten in der Hand, den sie irgendwo gepflückt hatte …
Sabine bricht sich in einer Grotte den Rücken. Sie fällt vom schmalen Sims. Sie hat so furchtbare Angst. Und Emma berührt sie an der Hand und tröstet sie. Und dabei weiß Emma doch, dass sie die anderen Kinder in Ruhe lassen soll. Sie gilt als schlechter Umgang in Boudry, als ungelehrig, unverbesserlich, als Gottes verlorenes Kind, immer immer wieder.
Emma lernt, die Laken ordentlich unterzuschlagen, auf der Eisenliege stillzuliegen, die Hände sittsam auf der schmalen Decke, parallel, wie kleine Flügelchen ohne Spannkraft, dabei ist sie immer so voller Begehrlichkeiten! Will singen und tanzen, die Arme verwerfen, auf den Boden stampfen!
Emma erobert sich Aufmerksamkeit, indem sie Räder schlägt, Purzelbäume macht und die anderen Mädchen dazu animiert, sich vorzubücken, damit sie über Rücken Bockspringen kann. Sie spielt sich wie ein Instrument, sie beherrscht sich gut. Und doch ist Emma in sich gefangen und betrachtet die Welt um sich wie durch Gitterstäbe hindurch. Und wenn sie an zu Hause denkt, ist es, als ob sie eine ausgezackte Scherbe verschluckt, die ihr im Hals kratzt und schmerzt.
Als ihre geliebte Puppe bei einem Schmorbrand, den das bunte Tuch über dem Lampenschirm verursacht
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