Die Ruhelosen
Beweis seiner Durchsetzungskraft. Denn: All dies hatte er alleine ausgedacht und all dies selber realisiert! Nunzio war auf den Geschmack gekommen.
Die Schülervorstellungen, die er von nun an mit dem Schauspielhaus Zürich, aber auch am Kleinen Theater am Neumarkt auf die Beine stellte, erfüllten ihn mit Glückseligkeit und einem Rausch des Triumphes. Und auch die verschiedenen Veranstaltungen politischer Art bewiesen ihm, dass seine Präsidentschaft des Zürcher Mittelschulparlaments für die Ausgestaltung seiner Persönlichkeit nicht unwesentlich war. Er spürte in sich den starken Drang, den Dingen auf den Grund zu gehen – und sie öffentlich zu machen. Als wäre er das der Welt schuldig, allein schon durch die Tatsache, dass es kein anderer tat. So sehr ihn jede Bühne und jedes Bühnenwerk, jeder Tanz auf dem politischen Parkett faszinierte, so sehr musste er auch hinter jeden Vorhang blicken. Er wollte wissen, wer die Fäden zog, und ließ nicht locker, ehe er es verstand.
In der Aula des Schulhauses des Realgymnasiums oberhalb des Zürcher Pfauens fanden die politischen Diskussionen statt. Nunzio lud dazu jede aktuelle Größe ein, die er für seine Denk- und Debattierübungen als groß genug empfand. Gottlieb Duttweiler, Gründer der Migros, war ebenso als Redner zu Gast wie der Stadtpräsident Zürichs, Emil Landolt. Und als ihm der Völkerrechtler und ehemalige Schweizer Gesandte in Jugoslawien, Eduard Zellweger, einen Korb geben wollte, weil dieser der Meinung war, so junge Leute wie Nunzio vermöchten das Machtproblem eventuell gar nicht zu begreifen und könnten seinen Vortrag über das Verhältnis USA und UdSSR nicht nachvollziehen, da machte sich Nunzio kurzerhand selber auf, den Anwalt zu überzeugen. In dessen Parterrewohnung an derZürcher Tödistraße trank der junge Blonde dann mutig seinen ersten Türkischen Kaffee und stand Zellweger Red und Antwort. Begeistert von so viel Interessiertheit und echtem Verständniswillen, sagte dieser zu und stieß mit seinem Vortrag im Mittelschulparlament die Kugel an, die danach in zahlreichen Gesprächen und Diskussionen, aber auch in übungsweise inszenierten parlamentarischen Verhandlungen unter den jungen Männern vieles ins Rollen brachte.
Eines aber blieb sich gleich oder verstärkte sich sogar – Nunzio wurde zum Parallelgänger zwischen den Welten, zum Verbindungsstück, das die Wirklichkeit vor dem Vorhang ebenso auslotete und kannte wie die Wirklichkeit, die dahinter lag.
Er hatte, ohne dass er es wusste, seine Bestimmung gefunden.
Gottes verlorenes Kind
Richterswil, 1958
Also schon wieder. Zum dritten Mal in ihrem Leben. Emma ließ die Schultern sacken. Früh genug würde man ihr sagen: Steh gerade; raff dich zusammen; Bauch rein, Brust raus; Kinn hoch; aber nicht zu hoch. In diesen drei, vier, sechs oder sieben Sekunden, die sie hatte, die Gott ihr gewährt hatte, der liebe Gott, von dem ihre Mutter so oft sprach, in dessen gütige Hände man seinen ganzen Kummer, sein ganzes Leid legen sollte, um frei zu sein, wieder frisch, froh und mutig, dieser Gott dehnte die Zeit, diese nur noch fünf oder ein paar mehr Sekunden, die die Gouvernante benötigte, um über den groben Kies zu ihr hin zu marschieren, die sie da stand, im roten Kleidchen, mit der roten Schleife im schwarzen Haar, dem widerspenstigen, den Söckchen mit den Rüschchen, den schwarzen abgetretenen Lackschuhen, in ihrer dunklen, trotzigen, vornübergebeugten Gestalt, diese wenigen kostbaren Sekunden nutzte sie, um die Lage zu sondieren, vorzufühlen, um möglichst jetzt schon den gesamten unheilvollen Raum aufzunehmen, um gewappnet zu sein für alles, was hier geschehen könnte, ihr hier geschehen könnte, ihr zustoßen mochte, derweil sie wartete auf ein Wort dieses ungeprüft gütigen Gottes, der doch alles sah, der doch immer alles mitangesehen hatte und nichts getan.
Vor Emma zog in diesen Sekunden ihr ganzes zwölfjähriges Leben vorbei.
Oberbalm, Emma mit fünf. Der erste Abschied von Maman Mondaine und Papa Abel. Herzzerreißend, wie sie schreit, wie sie sich selber in den Ohren echoen hört, noch in der ersten Nacht. Sie ist überzeugt, dass ihr die Ohren aufplatzen, bersten und Blut und gelbe Flüssigkeit, ihr Gehirn, hinausströmen werden in einem einzigen langen, nicht anhaltenden Strom. Am Morgen findet sie Blutstropfen auf ihrem dünnen Kissen, und ihr Gesicht ist ganz angeschmutzt mit Krusten, die ihr an Nase, Oberlippe und Kinn kleben.
Der Nidel, der
Weitere Kostenlose Bücher