Die Runen der Erde - Covenant 07
das glatt wie Eis war. Linden musste bei jedem Schritt sorgfältig darauf achten, wohin sie trat, und ihr Gewicht erst verlagern, wenn sie sicher wusste, dass ihre Stiefelsohle festen Halt gefunden hatte. Und das Wasser brüllte sie ständig an, zu fallen und zu fallen und wieder zu fallen. Sie hatte das Reich unwiderstehlicher Kräfte betreten; die Realität schien entlang ihrer Nerven hinfortzuschmelzen, in ihrer Kleidung zu versickern und in kleinen Bächen, von denen ihr das Herz erstarrte, von ihrer Haut zu fließen.
Vor ihr ließ Liand den Mustang sich seinen Weg in dem ihm gemäßen Schritt suchen. Irgendwie bewirkten die durchnässte Wolldecke und Liands Hand am Zügel, dass Somos Ängstlichkeit sich in Grenzen hielt.
Linden, die weiter Anales Arm umklammert hielt, fühlte die Angst des alten Mannes. Weil sie sich darauf konzentrierte, wohin sie trat, spürte sie anfangs nur eine formlose Besorgnis in ihm; nichts mehr. Allmählich sickerte das Wesen seiner Qualen jedoch in sie ein wie die Macht des Wasserfalls. Mit einem zaghaften Schritt nach dem anderen war er in ein Reich von Gefahren eingetreten, die allein ihn bedrohten; in eine Verzweiflung außerhalb ihres Vorstellungsvermögens. Als Linden endlich die Veränderung in ihm bemerkte, schockierte diese Erkenntnis sie so sehr, dass sie darüber alle eigenen Ängste vergaß. Er schien im Begriff zu sein, geistig zu gesunden. Wenn ihre Sinne ihn in diesem Tumult richtig wahrnahmen ...
Auf einem von Felsblöcken freien, verhältnismäßig ebenen Teil des Felsbands blieb er plötzlich stehen und veranlasste sie dazu, ebenfalls haltzumachen. Seine Zähne knirschten und zermahlten die von Wasserstaub erfüllte Luft, als versuche er, große Sinnbrocken herauszubeißen.
Vielleicht rief er ihren Namen, forderte mit schwacher Stimme Hilfe oder Aufmerksamkeit. Linden hörte ihn durch das Brausen nicht, aber sie schlang die Arme um ihn, hielt ihn still; schottete sich gegen das Tosen des Wassers ab. Sie konnte seine Gesichtszüge kaum erkennen. Indem sie ihre Stirn seitlich an seinen Kopf drückte, um sich vielleicht von Knochen zu Knochen mit ihm zu verständigen, rief sie laut: »Anele! Alles in Ordnung mit dir? Ich kann dich nicht hören!«
Seine Stimme erreichte sie wie ferne Schwingungen in ihrem Kopf. »Skurj!«, kreischte er. » Skurj und Elohim. Er ist aus dem Gewahrsam ausgebrochen. Skurj verpesten sogar die Luft. Oh, die Erde! Ihre Knochen ...« Er riss einen Arm aus Lindens Umschlingung und presste die Handfläche an die Felswand, als wolle er sich davon abstoßen; sich ins Wasser und den Tod stürzen. »Ihre Knochen schreien auf! Sogar hier wehklagen sie!«
»Anele!«, rief sie wieder. Außer seinem Namen hatte sie ihm nichts zu bieten. »Anele!« Sie verstand nicht, wovon er sprach. Das Anklammern und Zittern seines ausgemergelten Körpers sagten ihr jedoch, dass er endlich wieder bei Verstand war. Für ihn enthielt Vernunft mehr Schrecken als jeder Wahnsinn.
»Meine Schuld!«, rief er klagend, als werde er vernichtet. »Meine! Die Elohim haben nichts getan, um den Gewahrsam aufrechtzuerhalten. Sie waren befleckt. Arrogant. Ich habe den Stab verloren! Den Schatz und das Bollwerk des Gesetzes. Mein Geburtsrecht. Ich habe es verloren! «
Wieder bei Verstand? Linden hielt ihn mit aller Kraft umklammert. Schauder durchliefen sie. Sah Zurechnungsfähigkeit so aus? Von Stave wusste sie, dass der Stab des Gesetzes vor über dreitausend Jahren verloren gegangen war.
»Anele! Was ist passiert? Was geschieht mit dir?«
Liand konnte sie unmöglich gehört haben. Er führte Somo vorsichtig weiter in Richtung Tageslicht und zu den westlichen Vorbergen, überließ Linden und Anele ihren Sorgen und Nöten. Anele nahm plötzlich die Hand vom Fels, drehte und wand sich in Lindens Umklammerung. Als sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden, drückte er seine Stirn an die ihre. Die in seinen Adern kreisende Erdkraft pochte, als wolle sie im nächsten Augenblick in Flammen ausbrechen. Wütend hämmerte er seine Qualen in ihren Mund, in ihre Kehle hinab.
»Bist du blind?«, heulte er, und das noch lautere Tosen des Wasserfalls trug seine Worte augenblicklich mit sich fort. »Siehst du nichts? Ich habe ihn in den Händen gehalten! Er war mir übergeben worden. Mir anvertraut worden! Ich habe jahrelang die Erde studiert, nach Mut gestrebt. Und ich habe ihn verloren! «
Sie konnte ihn nicht verstehen; konnte kaum denken: Wasserstaub und donnerndes Tosen
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