Die Runen der Erde - Covenant 07
ihr nicht. Vielleicht hatte auch er die Unterströmungen in Hami und ihren Seilträgern wahrgenommen. Stattdessen sagte er, als denke er laut: »Ich wusste nicht, dass die Meister Trauer empfinden können.«
Linden seufzte. »Natürlich können sie das.« Hätten sie nicht Liebe empfunden oder Verlust gekannt, hätten sie nicht den Eid abgelegt, der zum Dienst an den Lords verpflichtete. »Sie sind meistens nur zu streng zu sich selbst, um das einzugestehen.«
Liand runzelte die Stirn. »Ist das die Erklärung dafür, dass sie die Geschichte des Landes und seine Wunder leugnen? Fürchten sie sich zu trauern?«
Linden musterte ihn scharf. »Schon möglich.« Aus diesem Blickwinkel hatte sie Staves Volk noch nie betrachtet. »Ich weiß nichts über die Ranyhyn, aber sie müssen den Haruchai kostbar gewesen sein. Stave befürchtet, ihnen könnte etwas Schreckliches zugestoßen sein.«
Liand begleitete sie eine Zeit lang schweigend, dann sagte er langsam: »Das glaube ich nicht. Ich weiß so gut wie nichts über diese Ramen. Noch bin ich das neue Leben gewohnt, das meine Sinne erfüllt. Vielleicht führt es mich irre. Trotzdem ...« Er machte eine Pause, dann fuhr er nachdrücklicher fort: »Trotzdem glaube ich nicht, dass den Ranyhyn etwas Schlimmes zugestoßen ist. Das hätten die Ramen nicht geduldet. Um das zu verhindern, hätten sie sich notfalls alle geopfert.«
Linden nickte. Das war auch ihr Eindruck. Aber Stave konnte die Mähnenhüterin und ihre Seilträger doch bestimmt so deutlich sehen, wie Liand es tat. Wie sie selbst es tat? In diesem Fall ...
Dann hatte sein Misstrauen tiefere Ursachen.
Ebenso wie Stave wollte sie wissen, weshalb die Ramen sich weigerten, über die großen Pferde zu sprechen.
*
Die Schar stieg schweigend bis zum Fuß des durch Gesteinsabbrüche gebildeten Felsgrats zwischen den Steilwänden ab, und als sie ihn erreichten, stand die Sonne schon fast an einem Mittagshimmel. Linden spürte, dass ihre Strahlen ihr Gesicht und Nacken kräftig röteten. Sie konnte nicht beurteilen, wie viel höher als Steinhausen Mithil sie sich hier schon befand; aber die Luft war merklich dünner, frischer, und das durch die kühle Atmosphäre getarnte Feuer der Sonne besaß eine täuschende Intensität. So würde es nicht lange dauern, bis jedes ungeschützte Fleckchen Haut einen Sonnenbrand aufwies.
Sie fühlte sich leicht angegriffen – von Überanstrengung und Sonne etwas schwindelig –, als sie unterhalb des Felsgrats wieder zu den Ramen stieß. Zum Glück ordnete Mähnenhüterin Hami eine Rast an, damit die Wanderer sich erfrischen konnten, bevor sie das Labyrinth aus Felsblöcken in Angriff nahmen. Das tat sie zweifellos um Lindens willen. Trotzdem war Linden für die Verschnaufpause dankbar.
Von unten wirkte der Felsgrat unersteigbar hoch: ein riesenhaftes Gewirr von Felsblöcken, die himmelhoch aufgetürmt zu sein schienen. Durch eine optische Täuschung waren seine Flanken scheinbar nach außen geneigt, schienen über jedem zu dräuen, der töricht genug war, sie ersteigen zu wollen. Zugleich wirkten die Steilwände auf beiden Seiten so verkürzt, dass sie den Grat nicht zu verkleinern, sondern im Gegenteil zu betonen schienen. Als Linden nach oben starrte, verlor sie das Gleichgewicht und taumelte, als hätte sie ein Zittern im Fels gespürt: ein sich ankündigendes Zerspringen wie die fühlbare Labilität, die dem Einsturz des Kevinsblicks vorangegangen war. Der Fels erinnerte sich an seinen Sturz. Hätte sie den Granit wie Anele sprechen hören können, hätte er ihr vielleicht von dem Beben erzählt, das ihn von den Steilwänden hatte prasseln lassen.
Sie sah sich nach dem Alten um. Er würde auf die Steine hören, wo immer er sie fand, das stand für sie fest. Befand er sich dabei in einer seiner wacheren Phasen, würde er ihr vielleicht erzählen, was er erfahren hatte.
Sie traf ihn jedoch zwischen Wildblumen im Gras sitzend an, wo er auf einem Stück Dörrfleisch herumkaute, das einer der Ramen ihm gegeben hatte, und jeden, der ihm zu nahe kam, mit Verwünschungen überhäufte. Seine Aura stank nach Verachtung. Selbst hier, außerhalb der vertrauten Grenzen des Landes, konnte Lord Foul ihn noch erreichen, wusste weiterhin, wo der Alte war – und Linden mit ihm.
Linden war zu der Überzeugung gelangt, der Verächter habe die Kresch auf sie angesetzt, weil er durch Anele von ihren Bewegungen erfahren und sie hatte aufhalten wollen. Deshalb nahm sie an – betete darum?
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