Die Runen der Erde - Covenant 07
Außerdem schien die Wiederherstellung ihrer Sinne sie mit neuen Möglichkeiten zu erfüllen. Zumindest in diesem Umfang hatte sie die Fähigkeit zurückgewonnen, effektive Entscheidungen zu treffen. Um ihr eigenes Schicksal – und das Jeremiahs – zu beeinflussen. Sie war nicht länger völlig auf die Bereitschaft anderer angewiesen, sie zu führen und zu unterstützen.
Leider blieben ihre grundlegenden Dilemmata jedoch unverändert. Unter ihrer vorübergehenden Freude lauerten Frustration und Verzweiflung wie ein unterirdischer Magma-See, ein potenzieller Vulkan. Jeder Schritt, den sie in Gesellschaft der Ramen machte, war wie jede Geschichte, die sie hörte – wie wilde Magie selbst –, für sie wichtig. Trotzdem brachte nichts davon sie Jeremiah näher. Hätte ihr anfänglicher Muskelkater sich nachts nicht zu solchen Muskelschmerzen entwickelt, dass sie sich vor allem darauf konzentrieren musste, nur einen Fuß vor den anderen zu setzen, wäre sie gegen die größeren Schwierigkeiten ihrer Lage vielleicht wehrlos gewesen.
Auf einer Seite des Tals, in dem die Ramen ihr Lager aufgeschlagen hatte, speiste Schmelzwasser einen kleinen Bach, der dann durch die Schlucht lief. Dort machte die Schar kurz halt, um ihre Wasserschläuche zu füllen.
Erst danach betrat sie die eigentliche Schlucht. Der Engpass schlängelte sich zwischen rauen Felswänden hindurch, folgte einem uralten Riss im Granit des Bergmassivs. In unregelmäßigen Abständen versperrten herabgestürzte Felsbrocken ihnen den Weg und stauten den Bach auf oder ließen kleine Stromschnellen entstehen. Stave, Anele und die Ramen schienen solche Hindernisse gar nicht wahrzunehmen; sie bewegten sich zu geschickt und sicher, um behindert zu werden. Linden, Liand und Somo mussten jedoch darauf achten, wohin sie traten.
Als sie das andere Ende der Schlucht erreichten, stand die Sonne höher als die Kämme der niedrigsten Berge. In dem neuen Licht sah Linden im Süden einen Gipfel hinter dem anderen, bis sie in der Ferne verschwammen. Im Schatten wirkte ihr Eismantel schmutzig und durchlöchert, im Lauf der Zeit erodiert; direktes Sonnenlicht ließ das Eis jedoch bläulich rein leuchten. Als genössen sie die Sonne, reckten die Berggipfel ihre Häupter stolz in den Himmel.
Nach der Schlucht führte die Marschroute der Ramen über einen weiten Hang nach Südosten. In diesem leichteren Gelände konnten Lindens Muskeln sich wieder an Bewegung gewöhnen; außerdem löste Sonnenwärme einen Teil der Spannung in ihren Gelenken. Allmählich ließ der Schmerz in Schenkeln und Waden nach, und ihre Kniegelenke kamen ihr weniger spröde vor.
Liand, der Somo führte, schritt neben ihr aus, und seine heitere Gesellschaft half ihr ebenfalls über die Strapazen hinweg. Für ihn war die Wahrnehmungsgabe etwas Neuartiges, das ihn entzückte, und jeder neue Ausblick auf ferne Gipfel, alle Gräser oder Büsche oder Bäume, die er noch nie gesehen hatte, jeder über sie dahinsegelnde Vogel vergrößerte sein Entzücken. Für ihn wurde die Welt neu erschaffen, während er sie durchschritt.
Linden war weiter der Überzeugung, er hätte in Steinhausen Mithil bleiben sollen – oder sollte bei erster Gelegenheit dorthin zurückkehren. Dennoch merkte sie, dass sie sich von Stunde zu Stunde mehr auf ihn verließ. Er half ihr glauben, eine Welt, die Menschen wie ihn hervorbringe, könne der Verächter nie ganz zugrunde richten.
Dann begannen die Ramen nach Süden abzusteigen, um einen steilen Felssporn zu umgehen, der aus der Bergflanke wuchs, und Linden musste sich wieder auf ihre Schritte konzentrieren. Der Abstieg belastete ihre Knie und Schenkel, bis sie unter ihr nachzugeben drohten. Sie musste grimmig entschlossen die Zähne zusammenbeißen, um sich auf den Beinen halten zu können.
Bei jedem Blick zu Anele hinüber sah sie, dass sein Wahnsinn zwischen verschiedenen Phasen schwankte, womit er auf Reize oder Erfordernisse reagierte, die sie nicht einmal andeutungsweise wahrnehmen konnte.
Vor Linden führte das abfallende Gelände zu einem Hochtal hinunter, das mit losgerissenen kantigen Felsbrocken, riesigen Felsblöcken und Monolithen übersät war, als seien dort zwei der niedrigeren Berge zusammengestoßen. Während sie das granitene Chaos betrachtete, stieg die Befürchtung in ihr auf, die Ramen würden erwarten, dass sie über dieses Gewirr aus Felsblöcken kletterte. Zum Glück bogen sie jedoch vorher ab und zogen stärker in östlicher Richtung weiter. Sobald sie
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