Die Runen der Erde - Covenant 07
und dem ausgerenkten Bein entdeckte sie jedoch eine eingedrückte Nebenhöhle, Belastungsbrüche in beiden Oberschenkelknochen, verschiedene innere Verletzungen und mindestens acht Rippenbrüche. Eine Rippe war sogar völlig zersplittert, hatte sich mehrfach in einen Lungenflügel gebohrt. Linden konnte Staves schwere Atemzüge feucht rasseln hören; der Boden unter ihr schien unter seinem mühsam keuchenden Atem zu beben.
Als sie aufsah, war Esmers Blick auf sie gerichtet; Liand und die Ramen aber starrten an ihr vorbei zur anderen Seite des Versammlungsplatzes hinüber. Staunen und Ehrfurcht malte sich auf ihren Zügen.
Linden interessierte sich nicht einmal dafür, was sie sahen; das Donnern im Erdboden unter ihren Knien kümmerte sie nicht. »Du Scheißkerl!«, fauchte sie Esmer an. »Warum hast du ihn nicht gleich umgebracht? Alles andere hast du jedenfalls getan.«
»Ich habe gesehen, was du nicht siehst«, antwortete er. Ob Bedauern oder Befriedigung aus seinen Zügen sprach, konnte sie nicht erkennen. »Sieh!«
Mit einer Hand wies er über sie hinweg, und da spürte Linden das Nahen von Hufschlägen unter ihren Füßen. Als sie den Kopf zur Seite drehte, sah sie zwei stolze Pferde, wie aus Nacht und Feuerschein geboren, auf den Versammlungsplatz traben.
In ihrem Leben hatte Linden schon unzählige Pferde gesehen – aber noch nie welche wie diese. Sie waren robust und gewaltig, voll der essenziellen Substanz des Landes, mit breiter Brust und mächtigen Schultern und vor Intelligenz feurigen Augen. Ihr Fell glänzte, als sei es über Generationen hinweg unaufhörlich gestriegelt und gebürstet worden – einmal bei einem Rotschimmelhengst, einmal bei einer Apfelschimmelstute –, und ihre langen Mähnen und Schweife flatterten wie Wimpel. Mitten auf ihren Stirnen glänzten weiße Sterne wie heraldische Symbole, Embleme von Abstammung und Erdkraft.
Die Ramen verbeugten sich wie ein Mann vor ihnen, und es schien, als sei diese Geste für die Pferdehüter von Ra ebenso natürlich und notwendig wie das Atemholen.
Liand starrte die Pferde mit offenem Mund an, war wie gelähmt, konnte den Blick nicht von ihnen wenden.
»Dies ist die wahre Probe der Ramen«, erklärte Esmer ihr schroff. »Die Ranyhyn haben mich akzeptiert.« Das klang unglücklich und stolz zugleich. »Jetzt sind sie gekommen, um euch zu akzeptieren, den Haruchai ebenso wie dich. Und sie sind mir kostbar. Ihr Kommen hat mich dazu bewogen, von ihm abzulassen. Ich will ihnen nicht zuwiderhandeln.«
Die Pferde kamen über den Platz getrabt, bis sie nur noch wenige Schritte von Linden und Stave entfernt waren. Dort machten sie halt. Linden wagte kaum zu atmen, als sie erst die Köpfe hochwarfen, dass ihre Mähnen flogen, und danach sie und den Haruchai ernst betrachteten. Ihr leises Schnauben klang wie eine Begrüßung.
Dann beugten sie gemeinsam die Vorderbeine und senkten ihre Nüstern als Huldigung bis fast in den Staub.
Zweiter Teil
»Die einzige Form der Unschuld«
1
Erschöpfte Feindschaft
Nachdem die Ranyhyn wieder in der Nacht verschwunden waren, schafften die Seilträger Stave in eine der Wohnstätten mit offenen Seiten und betteten ihn neben dem kleinen Kochfeuer sanft auf eine Lagerstatt aus Soden und Farnkraut. Auf Lindens Anweisung hin holten sie mehr Holz und legten nach, damit das Feuer heller brannte. Weil sie sich schämten, dass die Ramen das Versprechen von Mähnenhüterin Hami nicht gehalten hatten, hätten sie noch mehr getan; aber Linden schickte sie fort, sobald Stave ihrer Ansicht nach so bequem wie nur möglich gelagert war. Sie hatte das Bedürfnis, mit seiner Notlage – und ihrer eigenen – allein zu sein.
Ohne ein Eingreifen von außen würde der Haruchai bald sterben. Um die gebrochenen Rippen herum und in dem durchbohrten Lungenflügel hatten Blutungen eingesetzt; selbst seine außergewöhnliche Vitalität konnte ihn nicht mehr lange vor dem Tod bewahren. Und die Ramen hatten keine Heilerde. Sie hatten nochmals Seilträger ausgeschickt, um welche holen zu lassen; ihres Wissens lag die nächste Fundstätte jedoch weit von der Grenze des Wanderns entfernt.
Weil sie um sein Leben fürchtete, spielte Linden kurz mit dem Gedanken, sich einfach ein Messer zu leihen und ihn aufzuschneiden; aber sie verwarf diese Idee rasch wieder. Auch mit den sterilen Ressourcen eines modernen OPs hätte sie ihn chirurgisch nicht ohne Bluttransfusionen retten können, die hier nicht möglich waren.
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