Die Runen der Erde - Covenant 07
Benutzte sie ein Messer, würde der Blutverlust seinen Tod umso schneller herbeiführen. Und sie war in keiner Verfassung für eine Operation. Sie war bereits erschöpft. Ihre verbrannte Gesichtshaut pochte trotz der lindernden Wirkung der Amanibhavam- Salbe. Und sie hatte zu viele Schocks erlitten ...
Trotzdem lag sein Leben in ihren Händen. Konnte sie nicht über sich selbst hinauswachsen – und das sofort –, würde er sterben.
Ihre Ängste wären leichter zu ertragen gewesen, wäre Stave nicht wieder zu Bewusstsein gekommen, als die Seilträger ihn auf das Lager betteten. Seine Augen waren vor Schmerz glasig, und er konnte nur angestrengt keuchend atmen; aber er erkannte Linden, die neben ihm Wache hielt. Benommen verfolgte er jede ihrer Bewegungen. Ohne seinen auf sie gerichteten Blick hätte sie sich ihrer Beschränkungen vielleicht weniger geschämt.
»Auserwählte«, sagte er zuletzt mit schwacher Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern zwischen blutbespritzten Lippen war. »Tu es nicht.«
»Halt die Klappe«, forderte sie ihn auf. »Spar dir deine Kräfte. Darüber hast nicht du zu entscheiden.«
Außerdem fürchtete sie, es würde ihm gelingen, sie umzustimmen.
Aber er ließ nicht locker. »Auserwählte, hör mir zu. Von deiner Heilkunst wird viel erzählt. Mich sollst du nicht heilen. Ich habe versagt. Ich bin ein Haruchai. Beschäme mich nicht mit meinem eigenen Leben.«
Hätte Linden noch Tränen gehabt, hätte sie jetzt um ihn geweint.
Mehrere Seilträger, darunter auch Bhapa, Char und Pahni, hielten sich weiter außerhalb der Wohnstätte auf, als hofften sie, irgendwie helfen zu können. Linden musste sich zusammenreißen, um sie nicht anzubrüllen, sie wegzuscheuchen, damit niemand außer ihr Stave betteln hörte. Stattdessen wies sie die jungen Leute an, ihr den Rücken zuzukehren. »Und lasst sonst niemanden herein. Ich will mit ihm allein sein.«
Sie wusste nicht, wie sie die eigene Schwäche und Staves Flehen sonst hätte ertragen sollen.
Als die Seilträger sich gehorsam abgewandt hatten, fuhr sie Stave an, als wolle sie ihn schlagen. »Red keinen Unsinn!«, fauchte sie wütend. »Verlang nicht, dass ich dich nicht heilen soll.« Oder wenigstens den Versuch dazu machen. »Du hast versagt, lange bevor wir hergekommen sind, ohne das als Ausrede dafür zu benutzen, vorzeitig aufzugeben.«
Der Meister schluckte Blut. »Ich soll versagt haben?«
»Nun, wie würdest du es sonst bezeichnen? Anele ist nur ein verrückter alter Mann ...« Was immer er sonst sein mochte. »Bis ich aufgekreuzt bin, waren die Ramen seine einzigen Freunde, und er ist ihnen nicht sehr oft begegnet.« Gott, zornig zu sein, tat richtig gut! »Aber er hat jahrzehntelang in den Bergen oberhalb von Steinhausen Mithil gehaust. Ihr seid die Haruchai. Wie du bei jeder Gelegenheit betonst. Aber ihr habt ihn nicht erwischt. War das etwa kein Versagen?«
Staves Gesichtsausdruck verriet nicht, was er dachte. Unter seinen Qualen konnte er Bestürzung oder Verachtung empfinden. »Er hat Hilfe bekommen.«
»Von den Urbösen, meinst du? Von den Urbösen, von deren Existenz du nicht mal wusstest? Das ist ein weiteres Versagen. Ihr habt euch zu Meistern des Landes aufgeschwungen, zu seinen Verwaltern ... Aber ich bin erst seit drei Tagen hier und schon auf ein halbes Dutzend Dinge gestoßen, die du nicht gewusst hast.«
Ihre einzige Lichtquelle war das unstet flackernde Kochfeuer; ihre einzigen Ratgeber waren numinose Wahrnehmungen, die sie zehn Jahre lang nicht mehr gespürt hatte. Und Stave würde es nicht mehr lange schaffen.
»Pass auf«, forderte sie ihn grimmig auf. »Ihr habt Anele nicht deshalb nicht geschnappt, weil er Hilfe bekommen hat. Ihr habt versagt, weil ihr nicht zahlreich genug für eure Aufgabe seid. Ihr seid über ein zu weites Gebiet verteilt.
Und ihr habt euch selbst isoliert. Niemand kann euch helfen, weil ihr die Leute nicht einmal wissen lasst, wie die Gefahren aussehen. Ich verstehe, weshalb ihr das ursprünglich für eine gute Idee gehalten habt. Zumindest glaube ich, dass ich es verstehe. Aber ihr könnt nicht beides haben. Jede Entscheidung hat Konsequenzen. Entweder seid ihr die Meister des Landes ...« Einsam und unantastbar, über Kompromisse erhaben, »... was zugleich bedeutet, dass ihr nicht zahlreich genug seid. Oder ihr seid nur Freunde des Landes, ein Volk wie die Ramen, und solltet dann nicht mal versuchen, den gelegentlichen Missbrauch von Erdkraft zu verhindern.«
Verstand er, was
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