Die Runen der Erde - Covenant 07
finden müssen.« Sie durfte es nicht wagen, eine zu erzeugen; nicht bevor sie selbst eine erlebt und mit ihrem Sinn für das Gesunde analysiert, sie zu verstehen gelernt hatte. »Aber das ist nicht das eigentliche Problem.« Linden hielt Hamis kummervollem Blick weiter stand. »Das wirkliche Problem besteht darin, dass ich mich nicht mit der Zeit ›auskenne‹. Ich weiß nicht, wie ich mich in den Wirbeln einer Zäsur zurechtfinden soll. Ich muss den Stab zu irgendeinem Zeitpunkt nach dem Tag erreichen, an dem Anele ihn verloren hat ...« Sonst würde sie tatsächlich die Vergangenheit verändern. »... und weiß nicht, wie ich das anstellen soll. Ich habe Esmer gefragt. Er hat gesagt: ›Halte dich an die Ranyhyn.‹« Sie nahm ihren Mut in beide Hände, indem sie weiter Covenants Ring umklammerte und diese Hand mit der anderen bedeckte. »Ich vermute, dass das heißt, dass sie mir helfen können.«
Hami wandte ihr Gesicht ab, als wolle sie ein Zusammenzucken verbergen. Sekundenlang reagierte keiner der Mähnenhüter auf die Forderung in Lindens Blick. Stattdessen sahen sie einander an. Linden hatte bei ihnen noch keine mentale Kommunikation erlebt, wie sie die Haruchai auszeichnete. Trotzdem schienen sie ihre jeweiligen Befürchtungen stumm zu bestätigen; sich gegenseitig Lindens unausgesprochene Frage vorzulegen. Dann sagte Dohn leise: »Darüber entscheiden die Ranyhyn selbst. Das müssen sie. Uns steht es nicht zu. Diese Frage geht über unsere Befugnisse hinaus.«
Mahrtiir nickte widerstrebend, als werde ihm zugemutet, auf einen unausgesprochenen Wunsch zu verzichten.
Doch Hamis Widerstreben schien andere Gründe zu haben, als sie sich nun erneut an Linden wandte. So zögerlich, dass Linden sie kaum verstehen konnte, antwortete die Mähnenhüterin: »Vielleicht meint Esmer, dass die Ranyhyn dir helfen können – und es freiwillig tun werden. Wir wissen nichts von Zäsuren oder Stürzen; wir sind Gefangene der Zeit. Aber die großen Pferde sind zu vielem imstande. Das ist gewiss. Und gewiss ist auch ...« Sie räusperte sich, dann fuhr sie mit kräftigerer Stimme fort. »... dass sie kommen, wenn sie gerufen werden. Sobald sie ihre Bereitschaft erklärt haben, sich reiten zu lassen, reagieren sie auf jeden Ruf, selbst wenn er aus Hunderten von Meilen Entfernung kommt.«
Linden starrte sie an. »Wie meinst du das?«
Hami hatte sich wieder besser in der Gewalt. »Ring-Than, hör mir zu. Gegenwärtig gibt es in diesem Tal keine Ranyhyn. Wir sind Ramen, die sich in solchen Dingen nicht irren. Weder Hyn noch Hynyn durchstreifen die Grenze des Wanderns. Würdest du Hyn jedoch rufen, wäre sie dir in wenigen Augenblicken zu Diensten.« Sie hob eine Hand, um Fragen abzuwehren, die Linden nicht zu stellen wusste. »Würdest du unten in Steinhausen Mithil stehen und sie rufen, wäre sie sofort bei dir. Würdest du oberhalb des einstigen Schwelgensteins stehen und wärst nur auf dem Weg durchs Westlandgebirge zu erreichen, wäre sie ebenso rasch zur Stelle. Du musst verstehen, Ring-Than, dass ich nicht von Entfernungen spreche. Die Ranyhyn besitzen keine besondere Begabung, die Schwierigkeiten ihres Weges zu überwinden. Ihre Fähigkeit, stets und überall zur Stelle zu, beruht vielmehr auf der Macht über Tage und Jahreszeiten.«
Linden bekam vor Staunen und Besorgnis große Augen. Sorge oder Hoffnung schnürte ihr die Kehle zu.
»Die Ranyhyn überwinden nicht Entfernungen«, flüsterte Hami, als sei dieses Wissen bedrückend. »Sie überwinden die Zeit. Sie reagieren nicht erst, wenn sie gerufen werden. Vielmehr hören sie, dass ein Ruf ergehen wird, und reagieren entsprechend. Ist die Entfernung groß und der Weg schwierig, brechen die Ranyhyn Monde oder Jahreszeiten vor dem Ruf auf, damit sie zur Stelle sind, wenn sie gebraucht werden.«
Auf irgendeiner Ebene, die sich nicht beschreiben oder erklären ließ, hatten sie die Zeit gemeistert.
»O Gott!«, murmelte Linden, ohne zu merken, dass sie laut sprach. »Es ist also möglich. Helfen sie mir, kann ich es vielleicht schaffen.«
Stave sagte plötzlich: »Auserwählte.« Wie stark seine Hüfte schmerzte, war offensichtlich, als er sich jetzt hochstemmte. Steif vor Schmerzen trat er auf Linden zu und baute sich vor ihr auf. Zumindest in diesem Augenblick hatte er seine charakteristische Leidenschaftslosigkeit abgelegt. Stattdessen zeichneten sich auf seinem breiten, flachen Gesicht Bitten und Ablehnung ab.
»Auserwählte«, sagte er wieder.
Sie starrte
Weitere Kostenlose Bücher