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Die Runen der Erde - Covenant 07

Die Runen der Erde - Covenant 07

Titel: Die Runen der Erde - Covenant 07 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Donaldson
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Einfallsreichtum, dass Linden oft vor Bewunderung der Atem stockte – und von solcher Größe, dass sie manchmal den gesamten verfügbaren Raum ausfüllten. Wäre ihm nicht das Baumaterial ausgegangen, hätte er sie vielleicht ins Unendliche vergrößert. Und trotzdem wirkten sie immer vollständig, wenn das letzte Element verbaut war, als hätte er irgendwie genau berechnet, was sich mit den vorhandenen Legosteinen oder Tinker Toys erschaffen ließ.
    Linden saß oft in seiner Nähe, wenn er seine Bauten errichtete. Sie hatte eine Möglichkeit gefunden, mit ihm zu spielen, ihn zu einer persönlichen Reaktion zu bewegen, obgleich er sie wie jedermann ignorierte. Sie nahm ein Element – einen Baustein oder ein Verbindungsstück – und passte es irgendwo in sein Gebilde ein. Jeremiah sah sie dabei nicht an, aber er machte eine Pause. Hatte sie das Element nach seinen unausgesprochenen Normen falsch angebracht, runzelte er die Stirn. Dann versuchte sie, ihren Fehler zu korrigieren. Hatte sie jedoch zufällig den richtigen Platz erwischt, nickte er leicht, bevor er weiterbaute.
    Solche Signale gaben ihr die Gewissheit, dass er sich ihrer bewusst war.
    Vor zwei Jahren hatte Linden aus einer plötzlichen Intuition heraus mit Sam Diadem über Jeremiah gesprochen. Sam gehörte ein kleiner holzverarbeitender Betrieb, der Spielzeug herstellte – hauptsächlich Schaukelpferde, Marionetten und verschiedene Puzzles aus seltsam geformten Holzteilen, die zusammengesteckt Kugeln, Pyramiden und dergleichen ergaben. Auf ihr Drängen hin hatte Sam entdeckt, dass Jeremiah ruhig und stetig fertige Spielsachen produzierte, wenn man ihn mit einem größeren Vorrat an Einzelteilen allein ließ. Er konnte sie nicht lackieren oder verpacken, und er spielte nie mit ihnen. Aber sie waren alle tadellos zusammengebaut.
    Jetzt ›arbeitete‹ Jeremiah an zwei Vormittagen pro Woche in Sams Betrieb. Seinen ›Lohn‹ investierte Linden gewissenhaft in K'nex, 3-D-Puzzles von Palästen oder noch mehr Legosteine oder Tinker Toys.
    Einige der Psychologen, die sie hinzugezogen hatte, bezeichneten Jeremiahs Zustand als ›Dissoziationsamnesie‹. Andere sprachen von ›hysterischen Konversationsreaktionen‹ und ›somatoformen Störungen‹. Aber obwohl seine Symptome denen eines Autisten ähnelten – tatsächlich schien er ein autistisches Genie zu sein –, konnte er nicht autistisch sein, denn während Autismus angeboren war, ließ Jeremiahs Zustand sich eindeutig auf ein Trauma zurückführen. Seine biologische Mutter hatte gesagt, vor der Feuerprobe sei er ›ein ganz normaler Junge‹ gewesen – was immer das nach ihren verworrenen Begriffen bedeuten mochte. Jedenfalls hatte keine der zeitgemäßen Autismustherapien die geringste Veränderung bei ihm bewirkt.
    Erinnerungen an den Ursprung von Jeremiahs Trauma ließen Linden noch heute in vielen Nächten hochfahren: in Schweiß gebadet, mit stummen Schreien in der Kehle. Seine biologische Mutter war eine Frau namens Marsha Jason. Sie hatte drei Kinder gehabt, die jetzt alle bei Adoptiveltern lebten: Hosea, Rebecca und ihr Jüngster, Jeremiah, der Prophet des Unheils. Diesen Namen hatte sie anscheinend gewählt, weil ihr Mann sie während ihrer letzten Schwangerschaft verlassen hatte. In Jeremiahs ersten Lebensjahren hatte Marsha Jason von den milden Gaben verschiedener Wohltätigkeitsorganisationen gelebt. Auf diese oder jene Weise hatte sie ihre Kinder und sich durch die Mildtätigkeit von Fremden durchgebracht, und als ihre Lebensuntüchtigkeit und ihr Selbstmitleid dann unerträglich geworden waren, hatte sie die ›Gemeinde der Vergeltung‹ für sich entdeckt. Von diesem Augenblick an, so behauptete sie später, entglitten die Ereignisse ihrer Kontrolle. Sie musste einer Gehirnwäsche unterzogen oder unter Drogen gesetzt worden sein. Sie sei eine gute Mutter gewesen: Ohne Gehirnwäsche oder Drogen hätte sie ihre geliebten Kinder niemals für den verrückten Kreuzzug der Gemeinde gegen Thomas Covenant geopfert. War damals nicht auch ihre rechte Hand verstümmelt worden? Sie habe es doch sicherlich nicht verdient, dass ihr die Kinder weggenommen und bei Pflegeeltern untergebracht wurden, flehte sie.
    Trotzdem hatte sie nicht leugnen können, dass sie in den letzten Wochen vor Covenants Ermordung – bald nachdem Joan die Gemeinde verlassen hatte – mit ihren Kindern und ungefähr dreißig weiteren Gemeindemitgliedern die Kommune verlassen und sich auf den Weg zur Haven-Farm gemacht hatte.

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