Die Runen der Erde - Covenant 07
war unzweifelhaft Schwelgenstein – Herrenhöh –, das Riesen viele Jahrtausende, bevor sie es in ihrer Zeit mit Thomas Covenant gesehen hatte, aus gewachsenem Fels herausgehauen hatten. Sie hatte Berg und Burg gesehen, aber Jeremiah hatte beide niemals erblickt, nie in seinem Leben. Er hatte sie nach Covenants Ermordung nicht in das Land begleitet. Und trotzdem schien er diese Orte zu kennen ...
Sein Wissen war bestürzend. In den Jahren, seit sie seine Mutter war, hatte er Hunderte, sogar Tausende von Gebilden konstruiert, aber bis heute hatte kein einziges auch nur andeutungsweise etwas mit dem Land zu tun gehabt.
»Linden?«, fragte Sandy besorgt. »Was hast du? Ist irgendwas nicht in Ordnung? Ich dachte, du würdest sehen wollen, was er ...«
Obwohl Linden seinen Namen gekeucht hatte, sah Jeremiah nicht auf oder reagierte auf den Klang ihrer Stimme. Stattdessen schaukelte er mit ausdrucksloser Miene sanft vor und zurück, wie er es immer tat, wenn er nicht eines seiner Gebilde baute – oder es wieder einriss. Mit diesem hier musste er fertig sein, denn sonst wäre es schwierig gewesen, ihn vom Weiterbauen abzulenken.
Großer Gott!, dachte sie entsetzt, und Wut kroch ihre Kehle empor. Er bedroht meinen Sohn. Lord Foul will Jeremiah schaden.
Indem sie Sandy vorläufig ignorierte, trat sie vor und kniete vor Jeremiah nieder, umarmte ihn, als könnte ihre bloße Umarmung ihn vor der Bösartigkeit des Verächters schützen.
Jeremiah nahm ihre Umarmung hin, ohne Linden seinerseits zu berühren, den Kopf zu drehen oder seinen Blick zu fokussieren. Linden wusste nur, dass er sie auf irgendeiner Ebene wahrnahm – dass seine Nerven ihre Gegenwart spürten, auch wenn sein Verstand es nicht tat –, denn er hörte mit den Schaukelbewegungen auf, bis sie ihn wieder losließ. Obwohl sie ihn seit zehn Jahren kannte und seit acht Jahren seine Adoptivmutter war, ließ er noch immer nur durch subtilste Andeutungen erkennen, dass er ihre Existenz wahrnahm. Aber sie hatte ihn seit langem so akzeptiert, wie er war. Andeutungen genügten ihr. Linden hatte genug Liebe für sie und ihn gemeinsam.
»Linden?«, wiederholte Sandy. »Habe ich irgendwas falsch gemacht?«
Linden schloss die Augen und atmete tief durch, um sich zu fangen. »Entschuldige, Sandy«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Alles ist in Ordnung; du hast nichts falsch gemacht. Es war bloß wieder so ein Gefühl. Als ich dies alles gesehen habe ...« Sie schluckte. »... bin ich irgendwie in Panik geraten. Genauer kann ich es nicht erklären.«
»Ich verstehe.« Sandys Erleichterung war unüberhörbar. Sie liebte Jeremiah; daran zweifelte Linden nicht im Geringsten. »Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagte sie sanft. »Gibt's irgendwas, das ich tun kann ...?«
Linden bemühte sich, den Schock, den Jeremiahs Gebilde bei ihr ausgelöst hatte, zu überwinden, aber es gelang ihr nicht. Um Bestätigung zu finden, öffnete sie die Augen und blickte Jeremiah ins Gesicht. Genau wie Joan sah er an ihr vorbei oder durch sie hindurch: ausdruckslos, ohne Schatten oder Aufflackern von Erkennen. Trotzdem war seine Wirkung auf Linden ganz anders. Er war so viel aktiver als Joan, bewies so viel größere Fähigkeiten und war manchmal so viel weniger gefügig, dass Linden diese eine Ähnlichkeit zwischen den beiden oft vergaß. Sie hatte seine Entwicklung seit dem fünften Lebensjahr beobachtet, sich seiner auf jede nur mögliche Weise angenommen, seit er fast sieben war, und jede im Lauf dieser Jahre eingetretene kleine Veränderung genau registriert. Sie hatte ihm die Zähne geputzt, ihn gewaschen, ihm die Nase geputzt, ihm Kleidung gekauft und ihn an- und ausgezogen. Sie hatte zugesehen, wie er größer und schwerer wurde, bis er fast so groß wie sie und etwas schwerer war. Sie hatte miterlebt, wie seine Gesichtszüge sich von der ausgehungerten, bedrückten Formlosigkeit eines vernachlässigten Fünfjährigen, der auf Lord Fouls Befehl seine Rechte ins Feuer gehalten hatte, in die schmalen, klar definierten Züge eines Teenagers verwandelt hatten. Seine Augen hatten die schlammige Farbe eines Erdrutsches. Auf seinen passiven Wangen sprossen die ersten Barthaare. Speichel befeuchtete den offenen Mund. Trotz seiner Ausdruckslosigkeit war dies das Gesicht eines Jungen an der Schwelle zum Mannesalter, das darauf wartete, dass Empfindungsfähigkeit ihm Sinn verlieh.
Als Linden sich davon überzeugt hatte, dass die unheimliche Eingebung, die Jeremiah dazu
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