Die Runen der Erde - Covenant 07
hinterlassen hatte. Ihre Eltern hatten sie für den Tod bestimmt, aber sie hatte dieses Vermächtnis überwunden. Jetzt erkannte sie, dass ihre neuen Leidenschaften und Überzeugungen mehr von ihr erforderten. Die Arbeit mit Patienten entsprach ihren Fähigkeiten, aber sie konnte eine Frau, die mit Riesen Freundschaft geschlossen, gegen Wüteriche gekämpft und an Thomas Covenants Seite das Sonnenübel besiegt hatte, nicht befriedigen.
Sie wollte auch einiges von dem Schaden wiedergutmachen, den Lord Foul auf ihrer gegenwärtigen Welt angerichtet hatte. Und sie brauchte jemanden, den sie lieben konnte.
Sie hatte Pechnase singen gehört:
Mein Herz hat Stuben, die seufzen von Staub,
Und Asche in den Herden.
Ich sollt' sie säubern, verweht soll alles
Von des Tages Atem werden.
Sie durfte nicht zulassen, dass die Leere in ihrem Inneren unausgefüllt blieb.
Ihrer eigenen schlimmen Kindheit verdankte sie starkes Einfühlungsvermögen für Kinder, die für die Torheiten ihrer Eltern büßen mussten, und so dauerte es nicht lange, bis sie sich an Jeremiah Jason erinnerte. Sie hatte bereits ein wenig Gutes für ihn getan. Vielleicht konnte sie noch mehr für ihn tun.
Als Linden ihn endlich aufgespürt und eine Begegnung mit ihm arrangiert hatte, erkannte sie sofort das in ihrem Herzen fehlende Stück, das sie wieder heil machen konnte. Sein kleines Gesicht sprach so deutlich zu ihr wie ein Schrei. Sie wusste, was es bedeutete, bei vollem Bewusstsein im eigenen Kopf gefangen, von einer bösartigen Macht besiegt zu sein. Auf diese Weise hatten die Sonnengefolgschaft und die Wüteriche sie zum Opfer gemacht, und die Elohim hatten im Prinzip nichts anderes getan. Die Vorstellung, Jeremiah könnte sich in vergleichbarer Lage befinden – über alles informiert und in seinem mentalen Gefängnis allein –, hatte sie zutiefst entsetzt.
Im Land hatte sie den Beinamen ›die Auserwählte‹ getragen. Jetzt wählte sie aus. Mit Megan Romans Hilfe spürte sie Jeremiah hartnäckig durch die juristischen und bürokratischen Labyrinthe des unzulänglichen Pflegefamiliensystems der County nach, bis sie ihn zu ihrem Sohn gemacht hatte.
Anfangs war die Aufgabe, die Linden sich selbst gestellt hatte, trotz Sandy Eastwalls Unterstützung mühsam und kostspielig. An der Verschlossenheit von Jeremiahs Wesen prallten alle Verständigungsversuche ab. Er war verloren, und keine Liebe konnte ihn finden. Hätte er wenigstens einmal geweint, hätte sie für ihn gejubelt, das als Sieg über eine nur ihm bekannte Niederlage gefeiert. Aber er weinte nie. Nichts durchdrang die steinerne Bastion seiner jammervollen Existenz. Seine einzige Reaktion auf alles um ihn herum bestand aus widerstandsloser Abwesenheit jeglicher Kooperation. Er konnte nicht stehen, konnte nicht gehen. Weil er stumm und einsam war, blieben ihm die üblichen Kinderspiele verschlossen, sodass sie keinen Hebel hatte, um ihn aus seinem Gefängnis zu befreien.
Und dann eines Tages ... bei der Erinnerung daran standen ihr noch heute Tränen in den Augen. Im Wartezimmer des Kinderarztes, von Spielzeug umgeben, das anderen Kindern Freude machte, hatte er eines Tages ohne Aufforderung plötzlich die Hand ausgestreckt, um einen bunten Bauklotz auf einen anderen zu stellen. Als er mit dem Ergebnis zufrieden war, hatte er einen weiteren Klotz daraufgestellt, dann noch einen.
Innerhalb einer Stunde hatte Linden, die ihre Aufregung kaum hatte beherrschen können, ihm einen Berg von Bauklötzen gekauft. Und als sie sah, dass er sie dazu nutzte, um einen improvisierten griechischen Tempel zu bauen, war sie ins Spielwarengeschäft zurückgerast, um mehr Holz- und Steckspielzeug zu kaufen.
Damals hatte sich nicht nur Jeremiahs, sondern auch ihr Leben geändert. Innerhalb weniger Wochen lernte er stehen – oder wieder stehen –, um höher hinaufreichen, höher bauen zu können. Und binnen weniger Monate hatte er sein Gehvermögen zurückgewonnen und schien sich müheloser durch und um seine Konstruktionen herumzubewegen, wenn er sie zu immer größerer Perfektion ausbaute. Sein neu entdecktes Talent hatte ihn in Lindens Augen verwandelt. Mit jeder neuen Konstruktion ließ er Hoffnung für die Zukunft entstehen. Ein Kind, das spielen konnte, ließ sich vielleicht eines Tages befreien. Und in seinem merkwürdigen Talent schienen unbegrenzte Möglichkeiten zu schlummern. Indem er ein Steck- oder Konstruktionsteil mit dem anderen verband, konnte er eines Tages vielleicht eine Tür
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