Die Runen der Erde - Covenant 07
oder seiner Situation noch bewusst zu sein. Auf irgendeine unterschwellige Art schien er jedoch zu begreifen, was von ihm erwartet wurde, oder vielleicht reagierte seine angeborene Erdkraft auf die Anwesenheit des Wegwahrers. Sobald Liand ihm seine Unterstützung entzog, wankte der Alte einige Schritte auf das Geschöpf zu und fiel vor ihm auf die Knie. Indem er die Hände vor das Gesicht hob, als bete er, ließ er sich langsam nach vorn sinken, bis sein Gesicht den Sand berührte. Dann breitete er wie um Gnade flehend die Arme aus.
Der Wegwahrer betrachtete ihn aufmerksam. Er kam näher, stellte sich über Anele und beschnüffelte ihn von allen Seiten, als könnte er die Geschichte seines Lebens durch seine bekümmerte Witterung aufnehmen. Dabei erweckte das Geschöpf immer mehr den Eindruck, als sei es verletzt; durch Kummer oder Leid beeinträchtigt. Hätte Linden den Grund dafür erkennen können, hätten Sorge und Schmerz des Wegwahrers ihr Aufschluss über sein Wesen gegeben. Ein weiterer Hinweis, eine letzte Erkenntnis oder Einsicht, hätte sie dazu befähigen müssen, das Dilemma dieser Geschöpfe zu enträtseln. Um vielleicht einen Hinweis zu erhalten, erklärte sie dem Wegwahrer halblaut: »Dies ist Anele, der Sohn Sunders und Hollians. Sie wurden auserwählt, den Stab des Gesetzes zu bewahren, als ich das Land nach Covenants Tod verlassen habe. Er hat ihn von seinen Eltern geerbt. Ihr habt ihn in der Höhle gefunden, in der er gelebt hat, während er das Land studiert und zu erkennen versucht hat, wie er ihm am besten dienen könnte.«
Er hat nur einen einzigen Fehler gemacht. Sieh dir an, was dieser ihn gekostet hat.
Sie wusste, dass das Geschöpf diese Wahrheit selbst entdecken konnte.
Sobald der Wegwahrer mit seiner Untersuchung fertig war, blaffte er gutturale Silben ins Halbdunkel, zog sich dann zurück und blieb erneut am Höhleneingang stehen. Dort verharrte er; offenbar um den Eingang zu blockieren und Linden den Zutritt zu verweigern ...
Einige Augenblicke später erkundigte Mahrtiir sich mit gepresster Stimme: »Esmer, was hat er gesagt? Hat der Wegwahrer eine Antwort gegeben?«
Esmer verbarg seinen flackernden Blick in seiner Armbeuge und schwieg.
Stave wartete mit vor der Brust verschränkten Armen. Sein flaches Gesicht verriet keine Reaktion. Linden hingegen konzentrierte ihre Aufmerksamkeit weiter auf das Geschöpf und die Höhle hinter ihm.
Als die Sonne in den Spätnachmittagshimmel eintrat, wurden die Schatten dunkler, verdeckten das Gesicht des Wegwahrers und füllten den Höhleneingang mit nahender Nacht. Innerlich wurde Linden immer nervöser; nach außen hin blieb sie die Ruhe selbst. Die Wegwahrer konnten vielleicht einwenden, der Zweck heilige in diesem Fall nicht die Mittel, aber sie konnten nicht leugnen, dass Anele der rechtmäßige Träger des Stabes war – oder dass er außerstande war, diese Verantwortung zu übernehmen. Ebenso wenig konnten sie glauben, der Stab des Gesetzes werde nicht dringend benötigt. Aneles missliche Lage illustrierte die des Landes drastischer als jede noch so eloquente Schilderung.
Und die Wartezeit zog sich nicht endlos lange hin. Schon bald schien die Dunkelheit in der Höhle sich zu verdichten, sich allmählich zur Gestalt eines zweiten Wegwahrers zu konzentrieren.
Dieses Geschöpf bewegte sich schmerzhaft humpelnd, als sei jede Bewegung eine Folter für seine dick angeschwollenen Gelenke. Als es aus der Höhle kam, sah Linden entsetzt, dass sein Körper voller nässender Flechten und Geschwüre war, als leide es an einer Art Beulenpest. Von der Hälfte seines Gesichts hatte sich die Haut abgelöst und ließ rohes Fleisch sehen, das mit jedem Herzschlag pochte und blutete. Beulen und Blasen entstellten seinen Mund, als hätte es Säure getrunken, und aus beiden Nasenlöchern tropfte eine stinkende grüne Flüssigkeit wie Eiter. Obwohl der Wegwahrer keinen Ton von sich gab, appellierten seine Schmerzen an Linden, als weine er laut.
Er kam noch ein paar Schritte auf sie zu, dann machte er halt und blieb schwankend stehen, als sei er am Ende seiner Kräfte.
»Himmel und Erde!«, flüsterte Liand. »Was hat ihn befallen? Ist das eine Krankheit? Oder hat irgendeine grausame Macht ihn so zugerichtet?«
»Esmer?«, fragte Mahrtiir scharf.
Linden verstand plötzlich: Das Leiden des armen Geschöpfs war der Hinweis, den sie brauchte. Wie sonst hätten die Wegwahrer auf Aneles verzweifelte Lage reagieren sollen, als durch die Enthüllung ihrer
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