Die Runen der Erde - Covenant 07
ins Gesicht, verwirrten ihre Sinne mit dem Modergeruch von verfaulendem Holz und feuchter Erde. Die Arzttasche knallte mehrmals an ihr Bein; die Stablampe war gegen die quälende Dunkelheit machtlos. Ihr Schein war ätherisch wie ein Irrlicht, nur eben hell genug, um Linden in die Irre zu führen. Nirgends war auch nur ein Trampelpfad zu erkennen. Der Wald war von der ihr vertrauten Welt abgeschnitten. Hätte Linden ihr Ziel nicht gekannt, hätte sie stundenlang umherirren können. Aber sie hatte seit der Nacht, in der Thomas Covenant ermordet worden war, nichts vergessen; sie folgte ihren Erinnerungen. Der Wind peitschte mit Ästen, um ihr den Weg zu versperren, und löste Efeuranken, die nach ihrem Hals griffen, aber nichts konnte sie aufhalten. Roger musste langsamer vorangekommen sein als sie. Sein Vorsprung konnte nicht mehr allzu groß sein.
An irgendeinem anderen Ort in diesem Wald, auf einem Hügel über dem Righters Creek, hatte Thomas Covenant einst gesehen, wie ein kleines Mädchen von einer Klapperschlange bedroht wurde. Als er den Hügel hinuntergestürmt war, um ihr zu helfen, war er gestürzt – und nach Schwelgenstein gerufen worden. Aber er hatte sich nicht von der Not des Landes beeindrucken lassen. Stattdessen hatte er sich dafür entschieden, sein Möglichstes für das kleine Mädchen in seiner eigenen Welt zu tun. Einen Ort dieser Art würde Roger meiden. Der Boden konnte zu viel vom Mut seines Vaters aufgenommen und bewahrt haben. Aber Linden klammerte sich in Gedanken daran, während sie zwischen den Bäumen weiterhastete und ihrem schwachen Licht durch den heulenden Sturm folgte. Auch sie war entschlossen, sich dem Land zu verweigern, wenn es sein musste – wenn Roger ihr keine andere Wahl ließ.
Über ihr zuckten und knallten Blitze, tauchten den Wald in grelles Licht und hüllten ihn dann wieder in Dunkelheit. Linden drückte mehrmals den rechten Handballen gegen das beständige Rund von Covenants Ring, hatte das Bedürfnis, sich zu vergewissern, dass sie das einzige Ding, auf das Roger es abgesehen hatte, noch besaß: einen Talisman, den sie vielleicht gegen Jeremiahs Leben eintauschen konnte. Ihre zerschnittene Handfläche brannte jedes Mal, wenn sie die Stablampe anders anfasste. Das Kunststoffgehäuse war von ihrem Blut klebrig. Wie viel Vorsprung hatte Roger? Hundert Meter? Eine Viertelmeile? Nein, so groß konnte sein Vorsprung nicht sein. Sie erinnerte sich an den Weg. Roger war schon fast am Ziel.
Nur über meine Leiche.
Dann begann das Gelände anzusteigen, und sie erkannte den letzten Hügel, die endgültige Grenze. Das dicht bewachsene Waldgebiet stieg zu einem Hügelrücken an. Dahinter fiel es in eine kreisrunde Senke, tief wie ein Steigbügelschuh, mit steilen, leicht nachgebenden Kieswänden ab. In dieser Senke wuchs nichts, als sei der Boden vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten mit etwas gesalbt worden, das ihn unfruchtbar zurückgelassen hatte. Als Linden den Hügelkamm erreichte, erwartete sie fast, unter sich ein Feuer brennen zu sehen. Roger hätte dort theoretisch ein großes Feuer entzünden können, aber nicht heute Abend: Er hatte nicht genug Zeit gehabt. Trotzdem hätte er sich ab dem Augenblick, in dem seine Absichten festgestanden hatten, auf diese Nacht vorbereiten können.
Sie sah jedoch kein Feuer, überhaupt keinen Lichtschein. Auf dem Boden der Senke, das wusste sie, lag ein Findling, dessen waagrechte Oberseite an einen primitiven Steinaltar erinnerte. Covenant war darauf geopfert worden; sie selbst war daneben zusammengebrochen. Aber sie konnte den Stein jetzt nicht sehen. Der Lichtstrahl ihrer Stablampe reichte nicht so weit. Als stehe sie am Rand eines Abgrunds, schien das Gelände vor ihr in noch schwärzeres Dunkel abzufallen.
Dann spaltete ein Blitz den Himmel, und in seinem grellsilbernen Schein sah sie die Senke, als hätte sich ihr Bild in ihre Netzhäute eingebrannt. Im nächsten Augenblick schlug die Nacht wieder über ihr zusammen, aber Linden hatte weiter die mit Silber und Entsetzen geränderte Szene vor Augen. Im Granit des Findlings eingelagerte Glimmerflecken glitzerten so, dass Roger Covenant in einem Funkenregen zu stehen schien. Er blickte in Lindens Richtung den Hügel hinauf, als hätte er sie erwartet – und genau gewusst, wo sie auftauchen würde. Aus seinem Lächeln sprach die leere Freundlichkeit eines Leichenbestatters. In seiner Rechten hielt er eine Pistole, schwer wie eine Keule, die auf Sandy Eastwalls Kopf gerichtet war.
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