Die Runenmeisterin
hinunter, »was wollt ihr?«
Ein Pfeil prallte gegen seinen Schild, und dann hörte er nur noch Lachen, und jemand sehne zurück: »Ist das Antwort genug, Van Neil?«
Sie kannten seinen Namen. »Wer seid ihr?« schrie er wieder hinunter.
Aber sie lachten nur. »Öffnet das Tor, dann könnt ihr ungehindert abziehen.«
Er begab sich wieder in die Halle. Jemand hatte inzwischen das Feuer im Kamin entfacht, und Pater Clemens ging immer noch auf und ab.
»Was ist?« fragte er hastig, als er Van Neil kommen sah. »Was wollen sie?« Van Neil grinste. »Sie wollen herein, Pater. Was meint Ihr, sollen wir ihnen die Tür öffnen?«
Der Priester erbleichte. »Beim Kreuze Christi, das wäre doch unser sicherer Tod, oder?«
Van Neil nickte. »Ja, Pater, das wäre es.«
Er setzte sich zu Raupach an den Tisch. »Jemand muß nach Lüneburg. Und zwar so schnell wie möglich. Laßt den Iren sich herausschleichen, Herr, der ist so lautlos wie ein Geist, aber laßt ihn nicht selbst bis in die Stadt reiten, wir brauchen jeden Mann.«
Raupach nickte. »Ja, er soll zu dem Jungen gehen, der hat ein gutes Pferd, der mag nach Lüneburg reiten.«
Aber dann zögerte er. Wie sollten sie den Iren aus der Festung schmuggeln, ohne daß die Sachsen ihn sofort angriffen? Die hatten das gesamte Areal um die Mauern umstellt, da war kein Entkommen! Einen Mann jetzt hinauszuschicken bedeutete seinen sicheren Tod. »Einer muß es machen«, sagte Van Neil eindringlich.
»Er wird nicht durchkommen«, entgegnete Raupach.
»Dann sind wir alle des Todes. Er muß es versuchen.«
»Nein.« Raupach stand auf. Er registrierte ganz plötzlich verblüfft, daß er seit einer Stunde auf den Beinen stand. Wie war das möglich? War es die Angst, die ihn aufrecht hielt? Oder dieser bittere Trank, den der Arzt ihm verabreicht hatte? Nein, er wollte den Iren nicht dem sicheren Tod preisgeben. Er ging zum Feuer hinüber und hockte sich davor.
»Es gibt da einen unterirdischen Stollen.« Der Ire beugte sich über ihn. »Er führt nach draußen in den Wald. Vielleicht sollten wir versuchen, ihn zu finden …«
Raupach sah auf. »Ja. Das wäre ein Weg, auf dem jemand den Jungen benachrichtigen könnte …«
Er winkte Van Neil und stieg mit ihnen die Treppe zu den Kellern herunter. Mit Fackeln leuchteten sie die Wände ab, bis sie eine Eisenplatte fanden, die in die Mauer eingelassen worden war. Mit einem Beil brachen sie die Platte heraus, und dahinter kam ein schwarzes Loch zum Vorschein.
»Der Gang«, sagte Raupach leise, »er führt in den Wald, nehme ich an. Versucht es, Cai, und dann lauft zu dem Jungen. Der soll nach Lüneburg reiten, versteht Ihr?«
Der Ire nahm die Fackel und bückte sich. Da klang ein dumpfes, schweres Dröhnen durch die Keller. Von oben hörten sie Schreie. Die Soldaten griffen nach ihren Waffen und rannten die Treppe hinauf. Da war es wieder, schlug wie ein Donner krachend gegen die Mauern.
»Schnell«, sagte Raupach, »sie versuchen mit Rammböcken das Tor zu öffnen.«
Der Ire sah besorgt in den dunklen Gang. Er nahm die Fackel, bückte sich und schob sich hinein. Hinter ihm rief Raupach nach Gundeline und den Frauen. Cai Tuam tastete sich vorwärts. Der Gang war gemauert, aber die Decke sehr niedrig. Die Flamme der Fackel zuckte, blakte gegen die Steine. Das Dröhnen des Bockes von oben wurde immer gedämpfter, je weiter er sich vorschob, bis es endlich ganz aufhörte.
Hier unten war nur noch Stille, bis auf das Knistern der Fackel. Der Gang zog sich nach Norden, so wie Berthold vermutet hatte, dorthin, wo der Wald lag. Schnurgerade führte der Weg unter den Mauern der Festung hindurch. Cai Tuam begann zu schwitzen. Er merkte, wie das Licht der Fackel immer dünner wurde, weil es nicht genügend Luft gab. Sie stand fast still, wie die Flamme einer Kerze. Er schob sich immer weiter in die Finsternis, atmete langsam und konzentrierte sich immer nur auf den nächsten Schritt. Noch einer und noch einer, und das Licht in seiner Hand war nur noch eine schmale Säule. Hier ging es nirgends hin, außer in den Tod, dachte er. Er blieb stehen.
Die Flamme begann, sich ganz leicht zu bewegen und wieder etwas heller zu brennen. Da mußte von irgendwoher Luft kommen. Cai Tuam ging weiter. Noch ein Schritt und noch einer, und dann war jede Menge Geröll vor seinen Füßen, und dahinter die Umrisse einer schmalen Treppe. Er stieg über die zerbrochenen Steine, die schon vor langer Zeit aus der Decke gefallen sein mußten, und tastete sich
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