Die Runenmeisterin
hätte.
In ihrer Not lief sie zu Cai Tuam und fand ihn bei einem Stück Acker, der am Rand der Mauer in der Wintersonne lag. Er saß dort auf einem niedrigen Mauervorsprung und flickte sein Sattelzeug mit einer Nadel.
»Gebt her«, sagte sie zu ihm und nahm ihm das Sattelzeug mit der Nadel aus der Hand. »Ich kann das besser als Ihr.«
Er lachte und sah ihr bei der Arbeit zu. »Pater Clemens macht dir zu schaffen, oder?« meinte er plötzlich. »Er hat sich bei Maria über dich beklagt.«
Sie hob den Kopf. »Warum? Ich lerne, was er mir aufträgt. Ich bin nicht aufsässig und auch nicht dumm.«
»Vielleicht ist es gerade das, was ihn mißtrauisch macht. Du kannst lesen und schreiben, aber von der Bibel weißt du nichts. Da muß er sich doch fragen, woher du kommst. Wo du aufgewachsen bist. Du stellst zu viele Fragen.«
»Ja«, murmelte sie und ließ das Sattelzeug sinken. »Cai, ich komme nicht zurecht mit dieser Art von Leben. Mir fehlt die Freiheit, hier lebe ich wie ein Tier im Käfig …«
Tränen stiegen ihr in die Kehle. Sie war immer stark gewesen, stark im Glauben an die Götter, stark in der Einsamkeit, stark genug, um alle Widerstände zu brechen, und hätte man sie in den Sümpfen ausgesetzt, sie hätte es überlebt. Doch dieser lächerliche Priester würde sie besiegen mit seinen abstrusen Vorstellungen von Gott, und diese Mauern würden sie zerbrechen. Sie wollte diesen neuen Gott nicht, aber er zog und zerrte an ihrer Seele und wollte sie nicht loslassen. Und dabei wußte sie, daß es gar nicht Gott war, der sie quälte, sondern seine Stellvertreter auf Erden. Sie richteten Mauern auf, die kein Gott ersinnen konnte, und sprachen doch in seinem Namen.
Rosalie trocknete sich die Tränen. Cai berührte flüchtig ihre Wange mit der Hand. »Ist es so schlimm?«
»Ach«, murmelte sie, »es ist noch viel schlimmer.«
Er nickte und zog sie sacht auf die Mauer an seine Seite. »Rosalie, du mußt dich damit abfinden. Mir ging es einmal ähnlich wie dir, aber ich hatte nicht den Mut deiner Mutter, die immer gewußt hat, daß man sie eines Tages holen wird. Als ich deine Mutter kennenlernte, habe ich mich erinnert an all das, was hätte sein können, wenn ich mir und meiner Tradition treu geblieben wäre. Ich habe mich meiner Feigheit geschämt. Aber du kannst es nicht aufhalten. Du kannst nicht dein Leben lang allein in dieser Hütte bleiben. Die Zeiten deiner Mutter sind vorbei. Die alten Götter sind tot. Und deinen Runenbeutel solltest du verstecken, das schafft Argwohn.«
Er wollte sie trösten und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie blickte verlegen auf den Acker. Gute, dunkle Erde, eine Seltenheit in der Heide. Die Heide. Der Glaube der Sachsen sah die Heide als ein Symbol für Glück und Gold. Es gab eine göttliche Rune, die Heiderune. Der Baum, aus dem das göttliche Heid, das Gold, auf die Erde tropfte. Die Heide war das Abbild des Himmels, und Heid war die göttliche Kraft. Und die Christen hatten daraus die Heiden gemacht, die Satansanbeter.
Der Acker war gutes Gartenland. Hier, abseits vom Lärm und Gedränge der Burg, hätte man einen heiligen Garten anlegen können, mit zwölf Lanzen, die ihn bewachten, und zehn Brunnen, so wie es die Vatanis taten, die Runenkundigen. Cai hatte Rosalie beobachtet und nickte stumm.
»Ein Garten«, flüsterte sie, »ob der Herr mich einen Garten anlegen lassen würde?«
Cai lächelte. »Sicher. Warum nicht? Er muß ja nicht wissen, daß es ein magischer Garten werden soll. Er hält eine Menge von meinen Kräutern, die ich mir immer mühselig suchen muß. Du könntest Bilsenkraut pflanzen, Eisenhut, Lungenkraut und Leberblumen, und wenn du willst, helfe ich dir dabei.«
Sie sah ihn erstaunt an. Er hatte ihr das Herz geöffnet, und nun quoll es über vor Freude und Dankbarkeit. Es war, als hätte er sie mit einem Schlag diesem schrecklichen blassen Priester entrissen und die engen Mauern gesprengt.
Sie nahm sein Sattelzeug wieder auf, und während sie weiter nähte, machten sie gemeinsam Pläne für den Garten, der ein Zeichen der Götter in dieser Wüstenei werden sollte.
Die Arbeit ging ihnen schnell von der Hand. Cai und einige der Soldaten gruben den Acker um, und Rosalie segnete ihn in einer einsamen Stunde mit frischem Quellwasser. Im nächsten Frühjahr würde sie hier säen können. Sie legte Wege und Beete an und drei Brunnen. Es gab einen Schattenbereich und einen, der in der Sonne lag. In die Mitte pflanzte sie eine Esche, den heiligen
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