Die Runenmeisterin
Willen, der verlangte, daß sie am Leben blieb.
Sie durfte nicht sterben, kämpfte gegen diese Angst, die dunklen Gesichter ihrer Seele. Sie konnte ihr Leben nicht einfach so wegwerfen – es war zu stark in ihr.
Und dann, eines Tages, als sie wieder vor ihrer Hütte saß und auf die Heide blickte, sah sie einen Reiter auf sich zukommen. Aber sie konnte sich über den unerwarteten Besuch nicht freuen, da war nur noch Angst. Auch wenn es ein Freund gewesen wäre – sie wäre geflüchtet vor seiner Freundschaft. Sie rannte in den Wald und versteckte sich hinten bei den alten Steinen. Von dort sah sie den Fremden näherkommen, sah sein Pferd, einen tiefschwarzen Hengst mit kostbarem Zaumzeug. Das war kein Freund, das war ein Herr! Tod und Teufel waren ihr auf den Fersen. Sie verharrte in kaltem Entsetzen.
Der Mann stieg ab. Langes schwarzes Haar fiel ihm auf die Schultern, an seinem Hüftgürtel klirrten Dolch und Schwert. Er betrat die Hütte, blieb eine Weile drinnen und kam wieder heraus. Stand zögernd da.
Rosalie hörte ihren Namen. Er rief ihn einmal, zweimal, und in seiner Stimme klang ein fremdländischer Akzent. Plötzlich fielen ihr die Worte ihrer Mutter wieder ein. »Wenn sie mich holen, wird jemand kommen und dir helfen. Ich habe ihn gebeten, sich um dich zu kümmern. Er ist Ire.«
Das mußte der Ire sein. Er stand immer noch so da, fuhr sich mit der Hand durch das lange Haar. Rosalie verließ ihr Versteck, weil sie zermürbt war von der Einsamkeit und die Hoffnung größer war als die Furcht.
Er sah sie an, als sie über den Pfad auf die Hütte zuging. Seine Augen waren grün. »Hab keine Angst«, sagte er in diesem klingenden Tonfall, »deine Mutter schickt mich, auch wenn ich etwas spät komme.«
Er blickte sich um.
»Hier ist niemand«, sagte sie, »ich bin allein.«
Er zog die Stirn kraus. »Seit drei Monaten lebst du hier ganz allein? Niemand ist gekommen?«
»Sie haben mich alle vergessen. Sie haben Angst. Und Ihr? Habt Ihr keine Angst?«
Da lachte er. »Nein. Komm, ich bringe dich zu meinem Herren.«
»Wer ist Euer Herr?«
»Mein Herr wird dir zu essen geben und nicht wissen, wer du bist. Du kannst den Winter über nicht hierbleiben.«
Sie ging in die Hütte, holte ihren Umhang, die Krüge mit den wertvollsten Kräutern wie Bilsenkraut, den Eisenhut, die Küchenschelle und Tollkirsche sowie ein schmales Messer, das sie in ihrem Mantel verbarg. Zuletzt den Beutel mit den Runen.
Als sie sich umdrehte, stand er in der Tür und lächelte.
Berthold von Maesfeld war ihr neuer Herr. Er gab ihr zu essen und einen Platz zum Schlafen. Ihre Vergangenheit kannte in Raupach niemand. Der Ire hatte erzählt, er habe sie auf der Straße gefunden, und ihre Mutter sei von Wegelagerern ermordet worden. Aber Rosalie fühlte sich nicht wohl in dieser engen Welt, in die er sie verpflanzt hatte. Eine Schattenblume, die man ins pralle Sonnenlicht stellt, versengt. Und wenn Cai Tuam nicht gewesen wäre, sie wäre versengt.
Maesfeld war ein guter Mensch, der sie in der Obhut des Iren ließ. Aber Maria, seine Frau, war kalt wie ein Fisch. Ihr Vater, Raupach, war ein alter Mann, der bereits die zweite Frau verloren hatte und von dem man sich erzählte, daß der Kaiser ihm schon eine dritte aussuche.
Rosalie fehlten der Wald und der Garten ihrer Mutter. In den engen Mauern der Burg gab es nicht genügend Luft für sie, und in den Köpfen ihrer christlichen Bewohner war die Enge noch bedrückender. Maria bestand darauf, daß sie, da sie schreiben und lesen konnte, Unterricht bei dem Pfarrer nähme, der ihr die Worte der Bibel beibringen sollte. Also lernte sie die Psalmen auswendig und fürchtete sich vor diesem hageren, humorlosen Kleriker, dessen Augen sie zu durchbohren schienen wie die Pfeile einer Armbrust. Er mißtraute ihr, er spürte wohl die Heuchelei, mit der sie ihm begegnete.
Sie lernte schnell, aber was sie lernte, das verdarb ihr die Lust am Lernen. Später dachte sie, jeder Glaube ist so gut oder schlecht, wie diejenigen, die ihn verbreiten, und dieser Pfarrer verbreitete Angst und Schrecken. Er traktierte und quälte sie mit Höllenfeuer und Sündenfall und erzählte ihr, daß sie aus einer Rippe Adams entstanden sei und nur mit Demut und Gehorsam ihre Sünden wiedergutmachen könnte. Da er von ihrer Vergangenheit nichts wissen konnte, fragte Rosalie ihn arglos, worin denn ihre Sünden beständen. Da sah er sie an mit einem abgründigen Blick und meinte, daß sie noch viel zu lernen
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