Die Runenmeisterin
achte Gott, wer immer es sein mag«, sagte er leise.
Die Sonne brach sich in den Scheiben eines Fensters. Die Äbtissin hatte verstanden. »Wollt Ihr noch mit Schwester Leonia sprechen?«
»Nein. Richtet ihr aus, ihre Mutter hat nicht gelitten. Eine Überdosis Fingerhut, nehme ich an.«
Die Äbtissin nickte ernst. »Ich bin sicher, es war das beste so. Andernfalls hätte man sie aus der Gegend gejagt. Wohin hätte sie gehen sollen?«
»Ihr seid eine ungewöhnliche Frau«, sagte er und stand auf. Sie wollte etwas erwidern, lächelte dann jedoch nur und schüttelte den Kopf.
»Gott sei mit Euch«, sagte sie statt dessen.
Der Junge war in die Hütte seiner Mutter zurückgekehrt. Anna hatte man vor zwei Tagen entlassen. Sie nahm ihn in die Arme und weinte leise.
»Sie treffen sich nicht mehr, und Sigrun haben sie mitgenommen.«
»Ach, Junge«, seufzte die Mutter, »ich weiß es längst. Sie hat sich das Leben genommen.«
Er trocknete ihr die Tränen. »Mutter, ich hörte, daß die Herrin Maria heute kommt. Kannst du ihr trauen?«
Die Mutter ging zur Feuerstelle und setzte einen Topf mit Wasser auf. »Ja. Wenn sie sich nicht mehr treffen, hat die Angst endlich ein Ende. Sie weiß viel, mein Junge, aber ich bin sicher, sie verrät uns nicht. Hol uns was zu essen, sie wird Hunger haben, aber laß dich nicht erwischen.«
Maria entdeckte ihn, als er auf einer Lichtung stand und mit der Armbrust auf ein Birkhuhn schoß. Das Huhn flatterte auf und flog davon.
Maria beobachtete das Geschehen verblüfft und ritt nachdenklich weiter. Weil der Junge nichts geschossen hatte, gab es nur Haferkuchen mit Wasser. Der hohe Gast saß am Tisch und rührte seinen Kuchen nicht an. »Dein Sohn ist ein schlechter Schütze«, sagte sie und blickte in Annas erschrockene Augen.
»Ihr habt ihn gesehen?«
»Ja, von weitem. Aber er schießt so schlecht wie ein Blinder.«
Anna nickte. »Ja, er ist kein Mörder.«
Maria brach ihren Kuchen entzwei. Sie trank von dem frischen Quellwasser und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Irgendwas paßte nicht zusammen mit dem, was sie bisher wußte, aber sie kam nicht darauf, was es war. »Custodis«, sagte sie unvermittelt heftig. »Das paßt nicht zu ihm. Warum hat sich dieser gerissene Kerl so leicht täuschen lassen? Er mußte es doch besser wissen. Warum hat sich Custodis so auf deinen Jungen versteift?«
»Mein Junge kam ihm gerade recht. Er hatte sonst niemanden.«
Maria schloß die Augen. In der Hütte war es schwül, und das Kleid klebte ihr am Körper. Ihre Handflächen waren feucht. Jeder war ein besserer Schütze als der Junge. Der beste von allen war Raupach. Seine Treffsicherheit war berüchtigt.
»Raupach?« dachte sie laut. Aber Anna schüttelte den Kopf.
»Warum sollte der Herr seinen eigenen Offizier aus dem Weg räumen? Nein, es muß einer von denen gewesen sein, die in dieser Nacht am alten Stein waren. Sie hatten Angst, daß Monreal sie verraten würde. Aber mein Junge war es nicht.«
Maria stand auf und ging zur Tür. Sie drehte sich noch einmal um. »Wer war alles in dieser Nacht bei dem Treffen?«
»Ihr kennt sie nicht. Sigrun war da, mein Junge, einige Bauern, ich weiß nicht, wer noch da war.«
»War der Ire auch da?«
»Ich glaube nicht, aber ich bin mir nicht sicher.«
Maria nickte zum Abschied und trat in die trotz der Jahreszeit noch sengende Mittagshitze hinaus. Nichts paßte zusammen. Und der Ire war seit drei Tagen verschwunden. Niemand wußte, wohin, und Berthold fragte ihn nicht danach.
Sie bestieg ihr Pferd und ließ es im Schritt gehen. Gnadenlos brannte die Sonne auf die Heide hinab. Der Herbst begann. An den Bäumen hingen gelbe Blätter. Das Gras war verdorrt, und der Sand wirbelte durch die Luft. Abrupt brachte Maria das Pferd zum Stehen. Ihr war noch einmal der Junge eingefallen. Wie konnte ein Mensch mit zwei gebrochenen Armen eine Armbrust spannen und abschießen? Gewiß, er konnte flüchten, er konnte laufen und notfalls auch auf einem Pferd sitzen, denn sie hatten Pferdespuren am Morgen seiner Flucht entdeckt. Aber wie konnte er eine schwere Armbrust bedienen?
Die Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Warum war ihr das nicht früher aufgefallen? Hatte der Ire sie alle belogen? Was war in diesem Keller vor sich gegangen?
Maria gab ihrem Pferd die Sporen und galoppierte, Wolken von Sand hinter sich aufwirbelnd, zur Burg zurück. Hatte der Ire ihnen ein grandioses Täuschungsmanöver geliefert? Aber wie war das möglich? Berthold war in
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