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Die Runenmeisterin

Die Runenmeisterin

Titel: Die Runenmeisterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Groß
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diesem Gewölbe gewesen und hatte den Jungen selbst gesehen. Blutig, bewußtlos, mit verdrehten Gelenken. Diese Arme! Lang und stark und gerade, geschmeidig in ihren Bewegungen, den Pfeil einzuspannen. Mochte er auch kein guter Schütze sein, seine Arme waren so gesund wie ihre eigenen.
    Atemlos erreichte sie die Burg. Sie brachte die Stute in den Stall, stieg die Treppe zu ihrer Kammer hinauf, schloß die Tür und lehnte sich erschöpft dagegen. Der Junge hatte Monreal nicht getötet, und der Ire hatte dem Jungen nichts angetan. Wer also war der Mörder, und was hatte Cai Tuam mit dem Jungen angestellt in diesem Gewölbe? Und Custodis? Welche Rolle spielte er in diesem makabren Spiel? Und warum konnte sie selbst nicht endlich damit aufhören, sich wieder und wieder die immer selben Fragen zu stellen?

ZWEITER TEIL
ISA
    È
    »Ein neuntes kann ich,
wenn mich Not auf See mein Schiff zu schützen zwingt:
den Sturm auf dem Meer stille ich
und besänftige die See.«

Als sie kamen, um Sigrun zu holen, war Rosalie, ihre Tochter, längst im Wald verschwunden. Sigrun hatte Rosalie die Kraft der Pflanzen gelehrt, die Magie des Mondes. Sie hatte ihr gezeigt, wie und wo man die Runen ritzt, in Stühle, Stäbe, Steine, in den Giebel eines Hauses, in den Krug mit Bier, in den Pfosten eines Bettes. Sie hatte ihre Tochter mitgenommen, wenn sie über Land ging, um den Menschen Rat zu geben, die noch an die Kraft der Runen glaubten, die mit Runen schrieben und die keine Angst vor dem Runenzauber hatten.
    »Man hieß sie Heid, wo ins Haus sie kam,
das weise Weib, sie wußte Künste,
sie behexte Kluge, sie behexte Toren,
immer ehrten sie arge Frauen.«
    So hieß es in einem Vers, den Sigrun Rosalie beigebracht hatte. Sie hatte ihr von den alten Zeiten erzählt, in denen die Frauen die besten Seherinnen hervorgebracht hatten, in denen sie in die Schlacht gezogen waren und das Recht hatten, ihre Meinung zu vertreten. Dieses Recht gab es nicht mehr. Vor dreihundert Jahren war ein Kaiser gekommen und hatte all die töten lassen, die sich dem neuen Gott nicht hatten beugen wollen. Rosalie fragte sich, was für ein Gott das war, der mit dem Schwert in der Hand zu den Menschen kam.
    Nachdem die Büttel abgezogen waren, saß sie lange da und weinte. Mit ihrer Mutter schwand der letzte Rest Zuversicht bei all denen, die sich heimlich getroffen hatten. Jetzt würde es keine Treffen mehr geben. Und in zehn Jahren würde keiner mehr wissen, was aus den Menschen vom alten Stein geworden war.
    Rosalie lebte nun zurückgezogen in der Hütte ihrer Mutter. Vielleicht wußten die Büttel nichts von ihrer Existenz, vielleicht hielten sie sie für ungefährlich. Vielleicht warteten sie auch nur ab. Zwei Monate lang sah Rosalie keine Menschenseele. Manchmal, wenn der Hunger zu groß wurde, ging sie ein Stück in die Heide hinaus und schoß sich einen Hasen. Der Herbst hielt allmählich seinen Einzug. Die Blätter wurden immer bunter, die Nächte immer kälter. Rosalie sehnte sich nach einer menschlichen Stimme, nach Gesprächen am Feuer. Aber niemand wagte sich in die Nähe ihrer Hütte. Sie dachte an den Winter. Im Sommer hätte sie aus dem Garten leben können, da wuchsen allerlei Kräuter und Gemüse, auch einen Apfelbaum gab es. Für den Winter aber würde sie Getreide kaufen müssen, um Brot zu backen. Doch sie traute sich nicht weiter als bis an den Saum des Waldes. Dahinter lag Raupachs Burg, und die konnte eine Gefahr bedeuten.
    Als die Baumkronen in dämmenden Farben standen, lähmten sie Melancholie und Trauer so sehr, daß sie ganze Tage vor der Hütte saß und nichts tat, außer in die Heide zu starren. Manchmal, wenn die Sicht gut war, sah sie einen Reiter in der Ferne – ein flüchtiger Augenblick, eine Welt, zu der sie nicht mehr gehörte. Es gab Momente, in denen sie daran dachte, Gift zu nehmen. In Sigruns Hütte gab es so viel davon, daß man ein ganzes Heer damit hätte umbringen können. Schierling, Stechapfel, Eisenhut, schwarzes Bilsenkraut. An den welken Stengeln des Eisenhuts hingen die letzten Blüten in ihrem düsteren Blau. Ein Brei von Blüten, Wurzeln und Blättern zusammengemischt, und Rosalies Einsamkeit wäre vorüber gewesen.
    Damals lernte sie, daß sie einen eisernen Willen besaß. Die Rune, die sie einmal in ihrer Verzweiflung aus dem Orakel zog, war die Rune I SA . Die zeigte ihr, daß ihr Leben festsaß wie ein Karren im Schlamm, der nicht vor kam und nicht mehr zurück. Aber die Rune zeigte ihr auch diesen eisernen

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