Die Runenmeisterin
Sie richtete sich auf. Die Spitzen ihres schönen roten Kleides hingen in Fetzen. Schweigend ritten sie zurück, und vor den Mauern der Burg blieb er stehen.
»Ich werde dem Herren sagen, daß Ihr nur ein wenig Gesellschaft gesucht habt und deshalb zu Anna gegangen seid. Gebe Gott, daß der Herr mir das abnimmt.«
Sie nickte nur. Zu Hause angekommen, lief sie in ihre Kammer und verkroch sich ms Bett. Sein Kuß brannte auf ihren Lippen, als sei er das einzige, was wirklich gewesen war.
Sie ging nie mehr zu dem Jungen.
Die Ereignisse um den toten Offizier gerieten in Vergessenheit angesichts der politischen Lage im Land, die immer verworrener und gefährlicher wurde.
Schon im vergangenen Jahr war der Herzog von Sachsen mit dem Bann belegt worden, der, kurze Zeit aufgehoben, dann doch wieder über ihn verhängt worden war. Wenig später überstürzten sich die Ereignisse. Heinrich, der sich nicht zur Raison bringen ließ, sondern ganz im Gegenteil zu keinem der Reichstage, zu denen er vorgeladen wurde, erschienen war, sah düsteren Zeiten entgegen. Zu der Anklage wegen Landfriedensbruchs kamen nun weitere hinzu: Beraubung und Verletzung der Rechte von Klerus und Adel. Der Reichstag zu Würzburg erklärte ihn der Länder Sachsen und Bayern für verlustig.
Der Reichstag zu Gelnhausen endlich beschloß eine Reichsheerfahrt gegen den Herzog für den Juli, was nichts anderes bedeutete als Krieg gegen den Löwen.
Doch Heinrich hörte nicht auf, plündernd und brennend durch das Land zu ziehen. Er lieferte sich bei Weißensee eine siegreiche Schlacht gegen die Kaiserlichen, und sah seine Macht wieder kommen. Aber dieser Sieg brachte ihm nun die Oberacht ein. Längst schon exkommuniziert und in den Bann gestellt, verlor er nun auch noch jedes Recht auf persönlichen Besitz.
Im Juli hatte der Kaiser sein Heer versammelt und war nach Wollenbüttel gezogen, hatte das Heer im September jedoch wieder aufgelöst und den Anhängern des Herzogs verkündet, wer sich bis zum November nicht von Heinrich losgesagt habe, verlöre jeglichen Besitz.
In Raupach wurde man allmählich unruhig. Bis jetzt war hier alles friedlich geblieben, die Kämpfe zwischen Herzog und Kaiser fanden stets weit genug entfernt statt, um die Burg nicht in unmittelbare Gefahr zu bringen. Doch hatte sich der Kaiser schon durch einen Kurier für den Heerzug, der im Juli nächsten Jahres geplant war, Raupachs Treue versichert.
Raupach war klar, daß die Macht des Welfen nur mit Waffengewalt zu brechen war. Aber wie sollte er selbst es halten? Er wollte so unauffällig wie möglich bleiben, um sich dem Herzog nicht in Erinnerung zu bringen. Denn würde Heinrich nach Raupach kommen, dann mußten sie sich ihm widersetzen, wollten sie nicht die Gunst des Kaisers verlieren. Sich widersetzen aber würde bedeuten, daß der Welfe die Burg belagern und notfalls niederbrennen würde.
»Es wäre politischer Selbstmord, es mit dem Braunschweiger zu halten«, hatte Berthold gesagt. Heinrich würde der kaiserlichen Armee im Sommer unterlegen sein, zumal seine Verbündeten, England und Frankreich, sich nicht auf einen offenen militärischen Konflikt mit dem Kaiser einlassen würden. Und dann würde Heinrich fallen wie ein überreifer Apfel vom Baum. Also hieß es abwarten und hoffen.
Zu alledem kam noch hinzu, daß sich Rechtsunsicherheit breitmachte, denn der oberste Landesherr besaß praktisch keine legale Gewalt mehr. Zwar wurde Recht gesprochen wie eh und je, doch alle höchstinstanzlichen Fälle würden nun noch länger als ohnehin schon auf den Schreibpulten der Juristen liegenbleiben. Martin war schon vor geraumer Zeit nach Braunschweig zurückgekehrt, wo es jetzt Wichtigeres gab als den Mord an einem sächsischen Offizier. Es ging um ihr aller Leben.
In Raupach führte das zu einer neuen Sorge. Raupach hörte von einer Frau, die angeblich eine Kuh verhext haben sollte. Im allgemeinen waren derartige Vorkommnisse Bagatellen, doch diesmal wurde es plötzlich zu einer großen Sache aufgebauscht. Raupach hörte sich den Fall an. Eine Kuh mit einer Euterentzündung war vom Bauern zu einer dieser Kräuterfrauen geführt worden. Der Bauer hatte schon alles versucht: das kranke Euter mit Asche eingerieben, mit Gänseschmalz, mit Hühnermist. Aber die Entzündung war nur schlimmer geworden. Da war er zu dem Kräuterweib gegangen. Die hatte das infizierte Euter nur mit Alkohol und Essig eingerieben und der Kuh ein paar Kräuter ins Futter gemischt. Zwei Tage später war
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