Die Runenmeisterin
bestätigt, als würde sie sich in seinem Gesicht widerspiegeln. Mit einer schroffen Geste schleuderte er seinen Umhang zur Erde, warf ihr einen unheilvollen Blick zu und warf sich auf das Lager.
»Der Delinquent wird hängen«, sagte er nur. »Morgen.«
Ja, dachte sie, sein Strafregister war lang genug. Aber daß man ihn hängen wollte, erschien ihr ungewöhnlich hart.
»Der Mann hat magische Rezepturen verschrieben, die ewiges Leben versprechen. Du weißt, wie so etwas zugeht.«
O ja, sie wußte es. Selbst ihre Mutter hatte hin und wieder solche Mixturen verordnet. Getrockneten Mohn, Fledermausohren in pulverisierter Form, getrocknete Kalbsnieren und hundert Tropfen vom Blut eines Einhorns. Sigrun hatte verzweifelte Menschen damit auf eine seltsame Suche geschickt nach allerlei exotischen Ingredienzien. Sie hatten also Fledermausohren gesucht und Mohn, und auf einem anständigen Markt war derlei immer leicht zu bekommen. Die Kalbsnieren gab jeder Bauer für ein wenig Geld, nur das Blut des Einhorns machte Schwierigkeiten. Woher nehmen, wenn man noch nie in seinem Leben ein Einhorn gesehen hatte? Aber auch dafür gab es – gegen Geld und Gold natürlich – immer jemanden, der es verkaufte. Der behauptete, es in der weiten Ferne Rußlands oder Arabiens selbst eingekauft zu haben. Die Suche nach diesem letzten Bestandteil der magischen Rezeptur konnte sich unter Umständen Monate hinziehen, aber sie verlieh dem Kranken Flügel, in seinem siechen Dasein einen Sinn, denn er sah ein Licht am Ende seiner Qual. Hatte er dann alle Bestandteile zusammen, so konnte er sie drei Tage vor Vollmond in der ersten Stunde vor Mitternacht endlich zusammenbrauen und damit den Zauber zum Leben erwecken. Viele Menschen, die ein solches Gebräu zu sich genommen hatten, waren von unheilbaren Krankheiten genesen. Doch die Obrigkeit erkannte die Zusammenhänge nicht und verbot solche Rezepturen.
»Was ist das für ein Mann, der angeklagt worden ist?« fragte Rosalie.
Der Ire lachte leise. »Oh, ich vermute, ein guter Geschäftemacher, der merkte, daß er viel Geld damit verdienen kann, wenn er den Menschen Drachenblut verkauft. Das andere haben ihm die Zeugen wohl angedichtet, die Wettermacherei, den Verkehr mit der Hexe und die Erscheinungen des Engels. Aber der Kerl ist reich geworden mit seinen Rezepten, das erweckt Neid, und außerdem ist es verboten.«
»Können wir denn gar nichts tun?«
»Nein. Der Mann wird hängen. Halte dich dem Schauspiel fern, Rosa, geh nicht hin.«
»Und du?«
Lange Zeit sagte er gar nichts. Schälte sich dann aus der Decke und füllte den Becher neben dem Lager mit eiskaltem Wein. »Ich muß ihn hängen.«
Der Schreck zog ihr ganz allmählich in die Glieder. So als habe sie nicht gleich begriffen, was er gesagt hatte. Das durfte nicht sein! Auch wenn der Angeklagte vielleicht nur ein gerissener Händler gewesen war, so hatte doch niemand das Recht, ihn aufzuhängen, zumal die Zeugen wahrscheinlich alle bestochen gewesen waren.
»Das kannst du nicht machen«, flüsterte sie.
Er lachte freudlos. »Immer dieselbe Geschichte, Rosalie? Willst du nicht begreifen?«
Er richtete sich auf und nahm sie sanft bei den Schultern. »Der Fall wurde gestern in Lüneburg verhandelt«, sagte er eindringlich, »er fällt eigentlich unter deren Gerichtsbarkeit. Die müssen ihn verurteilen, aber sie haben keine Lust dazu. Irgend jemand übt hier Druck aus, vielleicht der Herzog, denn nur weil einer angeblich Wetter macht oder Drachenblut verkauft, wird er normalerweise noch lange nicht an den Galgen geknüpft. Ich weiß nicht, was da vorgeht, aber ich weiß, daß die Lüneburger keine Lust haben, sich die Hände schmutzig zu machen. Sie wollen den Mann nicht durch ihren Scharfrichter hängen lassen, sondern durch Raupachs Soldaten. Und ich bin Söldner, verstehst du? Mir bleibt keine Wahl. Und wir müssen vorsichtig sein, es gibt zu viele Menschen, die wir warnen ließen. Nur ein Wort, und wir sind verloren.«
Er fuhr ihr mit einer fahrigen Geste durchs Haar. »Bleib hier, er wird morgen gehängt. Geh nicht hin, auch wenn die anderen gehen.«
Er klang wieder ungewohnt eindringlich. Diese Eindringlichkeit war etwas, das sie nicht an ihm kannte. Erst später verstand sie. Er hatte sie warnen wollen. Aber sie hörte nicht auf ihn.
Statt dessen ging sie hinaus in die einfallende Dämmerung. Hinter dem Lager gab es einen kleinen See, von Schilf und Röhricht umgeben. Am Ufer zog sich ein schmaler Pfad entlang, den
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