Die Runenmeisterin
sich die Handschuhe auszuziehen, ließ es jedoch. Prüfend musterte er Rosalie, und dann schweifte sein Blick über die Regale an den Wänden.
»Ihr wart lange nicht mehr hier«, sagte sie und füllte zwei Becher mit Apfelwein. Er nahm den Becher entgegen, und sein Blick wurde eindringlicher. Er wußte alles.
»Die Herrin leidet an einer seltsamen Krankheit«, sagte Cai Tuam.
»Ich hörte davon.«
Er nahm einen Schluck aus seinem Becher und nickte. »Ich habe lange darüber nachgedacht, an was sie wohl leiden könnte. Es hatte ganz den Anschein einer Art von Vergiftung, du kennst die Zeichen. Schmerzen, vor allem im Unterbauch, zuweilen auch Kopfweh, üble Blutungen, kein Fieber, Phantasien wie in einem Delirium. Aber sie war völlig klar. Nach drei Tagen etwa verschwanden die Zeichen, aber jetzt scheint sie kränker als zuvor. Sie ißt nicht, sie spricht nicht, sie weint nur.«
Rosalie schwieg.
»Mutterkraut«, sagte er, und sein Blick streifte erneut die Flaschen auf den Regalen.
»Was wollt Ihr?« fragte Rosalie ein wenig ärgerlich.
»Ich mache dir keine Vorwürfe«, sagte er ruhig, »ich bin kein Priester, und ich bin auch kein so guter Christ, daß ich nicht selbst so etwas schon getan hätte, wenn man mich darum bat. Aber ich will sicher sein.«
»Maria war hier. Aber ich habe ihr versprochen zu schweigen. Mehr werde ich Euch nicht sagen.« Sie tranken eine Weile wortlos den Wein. Durch das kleine Fenster fiel ein Sonnenstrahl, und der Ire schloß die Augen.
»Warum ist sie nicht zu mir gekommen?« fragte er schließlich leise. Warum hätte sie zu ihm gehen sollen, dachte Rosalie verwundert. Weil er der bessere Arzt war? Weil er ein Mann war? Und dann begann sie allmählich zu begreifen. Hatte Maria darum so sonderbar reagiert und war davongelaufen? War das möglich? Rosalie wagte nicht, ihn anzusehen. Sie spürte keine Eifersucht, da war nur Mitleid mit der Frau, die, auf welchem Wege auch immer, ebenfalls auf das Lager des Iren geraten sein mußte. Welche Götter hatten sie beide in diese irrwitzige Situation geführt, hatten sie gleichzeitig mit solcher Blindheit geschlagen und lachten nun über ihre armseligen Bemühungen, sich wieder aus diesen Fallstricken zu befreien.
Rosalie hob den Kopf. Er zog mit einer entschuldigenden Geste die Schultern hoch. »Was hättet Ihr ihr geraten?« fragte sie ihn.
Er lachte kurz und bitter. »Was würden die Götter mir geraten haben? Oder Gott? Ich weiß es nicht. Eigentlich müßte ich ihr dankbar sein, weil sie zu dir gegangen ist. Du hast mir die Entscheidung abgenommen.«
Rosalie sah ihm an, wie dankbar er war, und sie sah, wie wenig er dabei an sie dachte, an sie, die ihn geliebt hatte und nun auf diese Weise erfuhr, wo er seine Nächte wohl verbrachte, wenn nicht bei ihr. Sie drehte sich um und begann wieder, tote Blumen in tote Krüge zu stopfen. Sie war gekränkt und verletzt, und in ihrem Hals saß eine dicke Kröte.
»Warum bist du weggelaufen?« hörte sie seine Stimme hinter sich. »Ich habe mir Sorgen gemacht. Es hätte dir wer weiß was passieren können.«
»Mir ist nichts passiert«, murmelte sie und zerstieß mit dem Mörser einen Bund getrocknete Melisse.
»Willst du mir nicht erklären, warum du weggelaufen bist?«
Nein, sie wollte nicht. Sie wollte, daß er sie allein ließ. Aber seine Stimme klang so ernst, so traurig, daß sie ihn nicht fortschicken mochte.
»Wie viele Menschen hast du auf dem Gewissen, Cai Tuam?« fragte sie, und der Staub aus dem Mörser stieg ihr in die Augen.
»Ich könnte es noch verstehen, wenn der Tod eines Menschen irgendeinen Sinn haben würde, aber du hast einen Menschen hingerichtet, den du nicht einmal gekannt hast. Liebst du den Tod so sehr, Ire?« Der Duft des Pulvers erfüllte den Raum.
»Ich habe dich vermißt«, sagte er leise. »Und ich bin Soldat, Rosalie, kannst du das nicht verstehen? Wenn ich es nicht getan hätte, hätte es ein anderer getan, und vielleicht hätte sich der Mann dann noch stundenlang am Galgen gequält.«
»Ich habe dich nicht vermißt, Ire«, sagte sie kalt, »und diese Art der Logik kenne ich nur allzu gut. Allmählich beginne ich Maria zu begreifen. Sie hat immer gewußt, was du bist. Laß mich allein, Cai Tuam.«
Er saß noch immer halb auf dem Tisch, strich sich die Locken mit einer gereizten Bewegung aus der Stirn. Er würde so schnell nicht aufgeben, und sie verstand ihn sogar. Da hatte sich ein menschliches Gefühl in ihn hineingeschlichen, wie ein ungebetener
Weitere Kostenlose Bücher