Die russische Gräfin
die andere mir erzählt haben.«
Harvester ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Sprechen Sie von derselben Dinnerparty oder von einem zweiten Anlaß?«
»Beides.« Wellborough richtete sich auf. »Sie bekräftige ihre Behauptung am selben Abend, als Sir Gerald Bretherton ihr entgegenhielt, das könne sie unmöglich so gemeint haben, aber sie versicherte ihm, es sei ihr voller Ernst…«
»Und wie reagierten die anderen darauf?« unterbrach ihn Harvester. »Gab es eine Diskussion, oder glaubte man, sie sei nur überspannt oder habe sich gehenlassen?«
»Man versuchte, mit ihr zu reden, aber eine Woche später wiederholte sie bei einer Theaterparty ihre Vorwürfe. Ich kann mich nicht mehr an den Titel des Dramas erinnern, aber bei dieser Gelegenheit behauptete sie erneut, daß Prinzessin Gisela Prinz Friedrich ermordet habe. Es war entsetzlich. Jeder tat so, als hätte er nichts gehört oder als sei es ein makabrer Scherz gewesen, aber sie machte keinen Hehl daraus, daß sie ihre Worte genau so meinte, wie sie sie gesagt hatte.«
»Ist Ihnen bekannt, ob jemand diesen Behauptungen einen Fetzen Bedeutung beimaß, Lord Wellborough?« Harvester sprach mit leiser Stimme, aber um so bedachtsamer und deutlicher. Er richtete den Blick auf die Geschworenen und dann wieder auf den Zeugen. »Bitte überlegen Sie Ihre Antwort sorgfältig.«
»Gerne.« Der Lord sah Harvester fest in die Augen. »Ich hörte mehrere Leute sagen, das sei ja wohl der böswilligste Unsinn, den sie je gehört hätten; aber natürlich sei kein Körnchen Wahrheit daran.«
»Hört, hört!« rief ein Mann in der Galerie unter lebhaftem Applaus.
Der Richter warf einen warnenden Blick in die Ränge, griff aber nicht ein.
Rathbone schob den Kiefer vor. Im besten Fall hatte er auf einen resoluten und zugleich feinfühligen Vorsitzenden hoffen können. Aber vielleicht war es naiv von ihm gewesen, überhaupt etwas zu erhoffen. Die Worte des Lord Chancellor fielen ihm wieder ein. War der Richter nur diskret, oder hatte er schon kapituliert?
Die neben Rathbone sitzende Zorah lauschte mit unbewegter Miene. Vielleicht hatte sie den Ernst der Lage noch gar nicht begriffen.
»Von denjenigen, die Prinzessin Gisela kannten, glaubte es kein einziger«, fuhr Lord Wellborough fort. »Und das waren die meisten, wenn nicht alle. Allerdings gab es auch Leute, die diese Beschuldigungen wiederholten, und die Dummen begannen, Fragen zu stellen. Und dann wurde der Klatsch von bestimmten Dienstboten weiterverbreitet. Das Ganze war unsäglich unangenehm.«
»Wem?« fragte Harvester ruhig.
»Vielen, aber insbesondere Prinzessin Gisela.«
»Haben Sie persönliche Bekannte, in deren Augen Prinzessin Giselas Ruf gelitten hat?« bohrte Harvester nach.
Wellborough verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. »Ja. Ich hörte bei verschiedenen Anlässen häßliche Bemerkungen. Und als die Prinzessin für einen kurzen Aufenthalt nach England zurückkehren wollte, war es ihr unmöglich, zumutbares Personal zu finden.«
»Wie schrecklich!« Harvester war die Anteilnahme in Person.
»Haben Sie Grund zu der Annahme, daß das eine direkte Folge von Gräfin Rostovas Anschuldigungen war?«
»Ich bin mir dessen absolut sicher«, erwiderte der Lord kühl.
»Mein Butler versuchte, Bedienstete einzustellen, damit sie ein paar friedliche Monate in ihrem Landhaus verbringen konnte, um der Hitze von Venedig zu entkommen. Sie wollte sich vom Leben in der Öffentlichkeit zurückziehen, was angesichts der Umstände nur zu verständlich ist. Aber diese unsägliche Angelegenheit läßt das nun nicht mehr zu. Kurz, wir fanden keine geeigneten Hausangestellten. Die dummen Gerüchte hatten sich längst wie ein Lauffeuer verbreitet.«
Im Zuschauerraum erhob sich mitleidsvolles Gemurmel. Harvester schüttelte betrübt den Kopf. »Das ist ja schrecklich.
Die Prinzessin konnte also nicht kommen?«
»Sie war gezwungen, bei Freunden zu wohnen, doch das machte es ihr unmöglich, ein Leben in der ersehnten Abgeschiedenheit zu führen, die sie nach dem tragischen Verlust so nötig gehabt hätte.«
»Danke, Lord Wellborough. Darf ich Sie bitten, sich nun meinem gelehrten Kollegen zur Verfügung zu stellen, damit er die eine oder andere Frage an Sie richten kann?«
Rathbone erhob sich. Er spürte förmlich, wie es im ganzen Saal vor Spannung knisterte. Er hatte sich die ganze Zeit den Kopf zerbrochen, was er Lord Wellborough nur fragen sollte, aber alles, was ihm eingefallen war, hätte
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