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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Gisela, aufhielt. Auf einmal knisterte der ganze Saal vor Spannung. Niemand wagte mehr zu atmen.
    Rathbones erster Gedanke galt Giselas Größe. Sie war kleiner, als er erwartet hatte. Er hatte immer gemeint, die Frau, die im Mittelpunkt der zwei größten Skandale in der Geschichte einer Monarchie gestanden hatte, müsse von imposanter Statur sein. Tatsächlich sah sie so zierlich, ja, zerbrechlich aus, als dürfe man sie nur mit Samthandschuhen anfassen. Von Kopf bis Fuß war sie in Schwarz gekleidet: vom aparten Hut mit dem daran befestigten Trauerschleier, über das vorzüglich geschnittene Miederleibchen, das ihre grazilen Schultern und ihre Taille betonte, bis hinunter zum gewaltigen Taftrock, in dem sie fast wie ein Püppchen wirkte – unendlich zart und schutzbedürftig.
    Ein Aufatmen ging durch die Menge. Unwillkürlich schrie ein Mann: »Bravo!« Und eine Frau schluchzte: »Gott segne Sie!« Ganz langsam lüftete Gisela mit ihrer schwarz behandschuhten Hand den Schleier, drehte sich zögernd um und dankte den Leuten mit einem matten Lächeln.
    Rathbone starrte sie neugierig an. Eine Schönheit war sie nicht – das war sie nie gewesen –, doch die Trauer hatte sie zusätzlich gezeichnet. Jede Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen. Das Haar war unter dem Hut nicht zu sehen, aber man konnte ahnen, daß es schwarz sein mußte. Ihre Stirn war hoch, die Brauen gerade und die Augen groß. Mit würdevollem Blick starrte sie geradeaus nach vorne, aber ihre Züge, vor allem der Mund, verrieten Anspannung. Angesichts ihres tragischen Verlusts und der ungeheuerlichen Vorwürfe sprach es freilich für sie, daß sie überhaupt soviel Fassung aufbrachte. Wen konnte ihre Anspannung bei der Begegnung mit einer Frau, die sie mit ihrem Haß verfolgte, überraschen oder gar befremden?
    Nach dieser einen knappen Geste nahm sie hinter dem Klägerpult Platz, wobei sie jeden Blick zur Seite, insbesondere in Rathbones und Zorahs Richtung, vermied.
    Die Menge war so gebannt von ihr, daß kaum jemand auf Ashley Harvester achtete, der sich nun neben sie setzte. Auch Rathbone bemerkte ihn erst, als er schon saß, und das, obwohl Harvester sein Gegner sein würde. Vor Gericht waren sie einander noch nie gegenübergestanden, aber er kannte Harvesters Ruf. Er galt als ein Mann mit festen Prinzipien, der kompromißlos für seine Überzeugungen kämpfte und keinen Gegner scheute. Mit einem Ausdruck äußerster Konzentration und unerbittlicher Strenge auf seinem langen, hageren Gesicht saß er nun da und schaute starr nach vorne. Seine Nase war gerade, seine Augen tiefliegend und blaß, seine Lippen dünn. Von Humor konnte Rathbone keine Spur entdecken.
    Der Richter war ein älterer Herr mit etwas befremdlichem Äußeren. Er schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen, und doch wirkte er geradezu gemütlich. Auf den ersten Blick konnte man ihn für einen Mann halten, der eher dank seines Geburtsrechts statt eigener Leistungen in sein Amt gerutscht war. Als er aber mit sanfter Stimme um Ruhe bat, verstummte der Saal sofort. Das lag freilich vor allem daran, daß man sich in diesem sensationellen Fall kein Wort entgehen lassen wollte.
    Rathbone sah zu den Geschworenen hinüber. Wie er seinem Vater prophezeit hatte, handelte es sich um wohlhabende Bürger – ein Kriterium, das für die Auswahl unabdingbar war. Sie trugen ihre feinsten Kleider: dunkler Anzug, steifer weißer Kragen, schlichte Weste, bis zum Hals zugeknöpfter Frack. Und natürlich hatte jeder seinen Bart sorgfältigst gebürstet. Immerhin standen sich ein Mitglied eines Königshauses und eine Gräfin gegenüber, auch wenn es um einen Fall von äußerst zweifelhafter Natur ging. Und ganz gewiß war damit zu rechnen, daß eine große Anzahl englischer Adeliger den Prozeß direkt verfolgte oder aussagen würde. So setzten die Geschworenen dem Anlaß entsprechend ihre ernsteste Miene auf und starrten angestrengt nach vorne.
    In der Galerie saßen die Reporter mit gespitzten Bleistiften in der Hand, vor sich leere Blätter. Keiner wagte sich zu rühren.
    Das Verfahren begann. Ashley Harvester erhob sich.
    »Euer Ehren, verehrte Herren Geschworenen.« Er sprach präzise und mit einem leichten Akzent, der vage auf eine Herkunft irgendwo aus den Midlands schließen ließ. Er hatte wohl alles versucht, um die letzten Spuren seines Dialekts zu tilgen, doch in den Selbstlauten hatten sie sich noch gehalten.
    »Auf den ersten Blick gesehen ist dieser Fall weder dramatisch noch

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