Die russische Gräfin
der gebotenen Ausführlichkeit, damit die Herren Geschworenen, die ja nicht zugegen waren, die für diesen Fall relevanten Aspekte der Situation erfassen können.«
»Gewiß.« Wellborough wandte sich den Geschworenen zu. Die Miene des Richters verriet bislang nichts als unbeteiligtes Interesse.
»Es war eine von Lady Easton veranstaltete Dinnerparty. Wir waren etwa zwei Dutzend Personen am Tisch. Die Stimmung war sehr heiter, bis uns jemand – ich weiß nicht mehr, wer – an den Tod von Prinz Friedrich erinnerte. Schlagartig wurden wir alle ernst. Sein Tod hatte uns alle sehr betrübt. Ich und noch einige andere verliehen unserer Trauer Ausdruck. Einige äußerten ihr Mitgefühl mit der verwitweten Prinzessin, da sie wußten, wie innig sie und ihr Mann einander geliebt hatten. Aber es war nicht nur der schreckliche Verlust, der sie bekümmerte, sondern auch die Sorge um ihre Zukunft, da sie nun völlig allein in der Welt stand.«
Einige Geschworene nickten; einer schürzte die Lippen. In der Galerie erhob sich beifälliges Gemurmel.
Harvester sah zu Gisela hinüber. Ihr Gesicht verriet keinerlei Regung. Sie hatte ihre Handschuhe abgestreift, und nun lagen ihre Hände auf dem Pult vor ihr. Sie waren klein, doch kräftig. Bis auf ihren goldenen Ehering und einen schwarzen Trauerring trugen sie keinerlei Schmuck.
»Bitte fahren Sie fort«, bat Harvester mit leiser Stimme.
»Gräfin Zorah Rostova war ebenfalls anwesend«, erklärte der Lord mit vor Abscheu belegter Stimme. Seine Mundwinkel und Augen zuckten auf einmal. War er etwa doch nervös?
Rathbone dachte an Monks letzte Reise nach Wellborough und überlegte, mit welchen Mitteln er sich Wellboroughs Mitarbeit hatte sichern können, auch wenn sich seine Bemühungen letztlich als mehr oder weniger fruchtlos erwiesen hatten.
Harvester wartete.
Im Saal herrschte Stille. Jeder Atemzug war zu hören. Die Korsettstange einer Dame knarrte.
»Gräfin Rostova behauptete, für sie bestünde kein Zweifel, daß für Prinzessin Giselas Zukunft gesorgt sein und ihre Trauer sich mit der Zeit schon legen würde«, berichtete der Lord. Seine Züge spannten sich. »Ich hielt das für eine taktlose Bemerkung und glaube, daß sich auch jemand in dieser Richtung äußerte. Aber sie erwiderte daraufhin, daß ihre Bemerkung noch sehr mild sei, wenn man bedenke, daß Gisela Friedrich ermordet habe.«
Jäh schnappte der ganze Saal nach Luft. Aufgeregtes Geraune setzte ein und hinderte den Lord am Weiterreden.
Der Richter griff nicht ein, sondern wartete, bis sich die Gemüter wieder beruhigt hatten.
Rathbone spannte unwillkürlich alle Muskeln an. Seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich also. Er warf einen Blick auf Zorah, ihre lange Nase, ihre weit auseinander liegenden Augen, den feinen, sinnlichen Mund. Sie mußte verrückt sein! Eine andere Antwort war nicht möglich. Konnte man in Verleumdungsprozessen auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren? Aber nein, natürlich nicht. Es war eine Zivilstreitsache und kein Strafprozeß.
Er hatte einen Augenkontakt mit Harvester vermeiden wollen, aber unwillkürlich sah er zu ihm hinüber. Was drückten seine Augen nur aus? Klammheimliche Schadenfreude? Oder war es Mitleid, weil der andere wußte, daß er keine Chance hatte?
»Und wie reagierten die anderen am Tisch auf diese Behauptung, Lord Wellborough?« fragte Harvester, als der Lärm sich wieder gelegt hatte.
»Voller Entsetzten selbstverständlich! Es waren zwar einige darunter, die verlegen lachten, weil sie es für einen bizarren Witz hielten, doch ich gehe davon aus, daß die Situation ihnen derartig peinlich war, daß sie nicht wußten, wie sie sich verhalten sollten.«
Harvesters Augenbrauen wölbten sich. »Erklärte sich Gräfin Rostova näher? Brachte sie etwas zur Rechtfertigung ihrer ungeheuerlichen Anschuldigung vor?«
»Nein.«
»Nicht einmal ihrer Gastgeberin, Lady Easton, gegenüber?«
»Nein. Der armen Lady Easton war das schrecklich peinlich. Sie wußte nicht, wie sie die Situation retten sollte. Wir alle waren wie vom Donner gerührt.«
Harvester nickte. »Das kann ich mir gut vorstellen. Sie sind sicher, daß Gräfin Rostova sich nicht entschuldigte?«
»Im Gegenteil!« rief Wellborough aufgebracht. Er klammerte sich am Geländer des Zeugenstands fest und beugte sich vor.
»Sie sagte es noch einmal!«
»Sie haben das selbst gehört, Lord Wellborough?«
»Natürlich habe ich es gehört! Es läge mir fern, Dinge vor Gericht wiederzugeben,
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