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Die russische Gräfin

Die russische Gräfin

Titel: Die russische Gräfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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führt.«
    »Folglich war es nichts Aufsehenerregendes, wenn man dort spazierenging?« fragte Harvester.
    »Nein, Sir.«
    »Haben Sie je einen der Gäste dort allein gehen sehen?«
    »Ich bin viel zu sehr mit dem Haushalt und den vielen Gästen beschäftigt, als daß ich zum Fenster rausschauen könnte. Aber an einem sonnigen Tag – und der Frühling dieses Jahres war herrlich – gingen die meisten Gäste irgendwann raus.«
    »Außer Prinzessin Gisela.«
    »Ja, außer ihr, armes Ding.«
    »Die Gräfin Rostova zum Beispiel?«
    »Ja, Sir. Die mochte lange Spaziergänge. Bei schönem Wetter hält sie bestimmt nichts zu Hause.«
    »Und wie war es nach dem Unfall?« erkundigte sich Harvester. »Wurden die Mahlzeiten regelmäßig in das Zimmer des Prinzen gebracht?«
    »Immer, Sir. Er kam nie raus. Manchmal bekam er nur Rinderbrühe, aber alles wurde rauf geschickt.«
    »Wer brachte ihm das Essen? Ein Mädchen oder ein Lakai?«
    »Ein Lakai, Sir. Die Tabletts wären zu schwer für ein Mädchen gewesen.«
    »Und könnte ein Lakai auch mal einem der Gäste auf der Treppe begegnen?«
    »Ja, Sir.«
    »Hätte er ihm dann automatisch Platz gemacht, damit er vorbeikonnte?«
    »Natürlich!«
    »Wären sie trotzdem so nahe beieinandergestanden, daß der Gast heimlich etwas ins Essen hätte geben können?«
    »Das weiß ich nicht, Sir. Die Töpfe müssen immer Deckel haben, und die Tabletts sollen zusätzlich mit einem Tuch bedeckt werden.«
    »Aber möglich wäre es, Miss Haines?«
    »Kann sein.«
    »Danke.« Harvester wandte sich an Rathbone. »Sir Oliver?« Doch Rathbone sah nichts, was Nachfragen gerechtfertigt hätte. Worin hätte er ihr denn schon widersprechen können? Er hatte bewiesen, daß Friedrich vergiftet worden war. Harvester hatte bewiesen, daß Gisela es nicht gewesen sein konnte. Andere zu bezichtigen hätte freilich keinen Sinn; es wäre ein verzweifelter Rundumschlag, und Rathbone war klug genug, um zu erkennen, daß die Geschworenen das zu seinen Ungunsten werten würden. Außerdem hatte er noch keinen hieb und stichfesten Beweis in der Hand, daß es Pläne gegeben hatte, Waldo abzusetzen und Friedrich zu krönen. Aber ein solches Komplott würde niemand vor Gericht zugeben. Angesichts der gegenwärtigen Situation wäre es das Ende der Unabhängigkeitsbewegung, und zu diesem Opfer wäre kein Patriot bereit. Ob Zorah überhaupt damit geholfen wäre, das stand noch auf einem ganz anderen Blatt. Rathbone hielt es inzwischen für ausgeschlossen.
    Harvester lächelte. Sein Plan war voll aufgegangen. Giselas Unschuld und damit die Verleumdung durch Zorah war nun erwiesen und der Mordverdacht statt dessen plötzlich auf Zorah gefallen – zumindest für die öffentliche Meinung. Vielleicht sogar bald vor dem Gesetz, wenn es Rathbone nicht irgendwie gelang, das Gegenteil zu beweisen.
    Am Ende des dritten Verhandlungstages erwies sich Henry Rathbones Mutmaßung als richtig: der Schatten des Galgens türmte sich bedrohlich über Zorah auf.
    Kaum hatte sich der Richter erhoben, stürzten die Reporter auch schon zu den Hansoms und schrien den Kutschern zu, sie schleunigst in die Fleet Street zu bringen.
    Die Leute draußen reckten die Hälse und drängten nach vorne. Wie an den Vortagen gab es für Gisela Jubel, Segnungen, ermunternde Zurufe und Zeichen der Bewunderung.
    Zorah hingegen schlug blanker Haß entgegen. Faules Obst und Gemüse flogen durch die Luft. Mehr als ein Stein prallte gegen die Wand hinter ihr. Erhobenen Hauptes, doch mit aschfahlem Gesicht und verängstigtem Blick bahnte sich Zorah den Weg zu der Kutsche, die Rathbone in weiser Voraussicht für sie bestellt hatte. Er hatte sich nicht darauf verlassen wollen, inmitten der aufgebrachten Menge nach einem zufällig freien Hansom zu suchen.
    »Hängt sie!« schrie jemand. »Knüpft die Schlampe auf!«
    »An den Galgen mit ihr!« kam aus der Mengo das Echo.
    »Hängt sie auf.«
    Nur mit größter Mühe und nicht ohne Ellenbogenstöße nach allen Seiten gelang es Rathbone, Zorah zur Kutsche zu geleiten. Keuchend stiegen sie ein.
    Zorah saß dicht neben ihm, als sie losfuhren. Die Pferde scheuten, weil sie zu arg bedrängt wurden und einige Hände sogar am Geschirr zerrten. Der Kutscher wußte sich nicht anders zu helfen, als die Peitsche knallen zu lassen. Mit einem Ruck setzten sie unter dem Wutgeheul der Menge die Fahrt fort. Die zwei Passagiere wurden nach hinten geschleudert, und spontan legte Rathbone den Arm um Zorah und hielt sie fest. Sie schwiegen.

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