Die russische Gräfin
Rathbone hätte ihr gern gesagt, daß ihr nichts geschehen würde, daß er sie und auch sich schon irgendwie retten würde, aber er hatte ja selbst keine Ahnung, wie. Außerdem hätte sie eine Lüge gleich durchschaut und wäre nur wütend geworden.
Sie sah ihn dankbar, doch ohne Hoffnung in den Augen an.
»Ich habe ihn nicht umgebracht.« Ihre Stimme ging fast unter im Rattern der Räder und Gebrüll der Meute hinter ihnen, aber gleichwohl war sie fest und entschlossen. »Sie war es.«
Rathbone wurde vor Verzweiflung ganz klamm ums Herz. Auch Hester kehrte zutiefst deprimiert in die Hill Street zurück. Sie machte sich schreckliche Sorgen um Rathbone, doch je verzweifelter sie nach einer Lösung suchte, desto auswegloser erschien ihr die Lage.
Obwohl es ein milder Nachmittag war, fröstelte sie, als sie durch die Vordertür hereinkam. Heute fehlte ihr ganz einfach die Energie, die sie sonst immer auszeichnete.
Sie wollte allein sein und nicht mit Dagmar oder Bernd sprechen, die bestimmt schon vor ihr eingetroffen waren. Sie hatten ihre eigene Kutsche und waren sofort aufgebrochen, so daß sie das bittere Ende mit Zorahs und Rathbones Spießrutenlauf durch die haßerfüllte Meute nicht mehr mitbekommen hatten.
Hester ging in ihr Zimmer und legte als erstes den Mantel ab, bevor sie bei Robert anklopfte.
»Herein.«
Sie öffnete die Tür und sah zu ihrer Überraschung Victoria auf dem Besucherstuhl. Robert lag nicht im Bett, sondern saß im Rollstuhl. Beide wirkten entspannt, und da ihre Stühle recht nahe beieinanderstanden, schloß Hester, daß sie sich bis zu ihrem Eintreten ernst unterhalten hatten. Roberts Gesicht hatte draußen im Garten mehr Farbe bekommen. Die Spätherbstsonne und der Wind hatten ihm gutgetan. Sogar sein Haar, das ihm bei jeder Bewegung ins Gesicht fiel, glänzte. Allerdings war es höchste Zeit, einen Barbier zu holen.
»Was war heute los?« fragte er. Und noch bevor er eine Antwort erhielt, umwölkte sich seine Stirn. »Es sieht wohl nicht so gut aus, was? Ich erkenne es doch an Ihrem Gesicht. Kommen Sie, erzählen Sie uns alles.«
Hester spürte seine Warmherzigkeit. Mit einem Schlag stieg eine ohnmächtige Wut in ihr hoch, daß ein Mensch, den sie so sehr mochte, jetzt wahrscheinlich bis ans Ende seines Lebens ein an den Rollstuhl gefesselter Krüppel sein sollte, dem das verwehrt war, was seine Altersgenossen als Selbstverständlichkeit betrachteten – Beruf, Liebe und Ehe. Hester hatte auf einmal einen Kloß im Hals.
»War es wirklich so schlimm?« fragte Robert sanft. »Setzen Sie sich lieber. Soll ich nach Tee für Sie klingeln? Sie sehen ziemlich mitgenommen aus.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln, das, wie sie gleich merkte, mehr als kläglich ausfiel.
»Sie brauchen mir nichts vorzumachen«, fuhr Robert fort. »Ist denn schon das Urteil gesprochen worden? Aber so schnell ist das doch nicht möglich, oder?«
»Hat die Gräfin sich etwa entschuldigt?« fragte Victoria erstaunt.
»Nein, nein, sie hat nichts dergleichen getan«, erwiderte Hester und setzte sich. »Und das Urteil ist noch in weiter Ferne. Sir Oliver hat noch nicht einmal angefangen. Aber ich sehe nichts, was ihm helfen könnte. Inzwischen deutet alles darauf hin, daß Zorah kämpfen muß, um nicht selbst am Galgen zu enden.«
Die zwei starrten sie entgeistert an.
»Zorah?« stöhnte Robert. »Aber Zorah hat ihn doch nicht umgebracht! Wenn sie es gewesen wäre, hätte sie einfach stillgehalten und nie von Mord gesprochen, wo doch alle an einen Unfall glaubten. Das wäre ja völlig absurd!«
»Vielleicht hält man sie für nicht ganz bei Trost«, meinte Victoria. »Es kann sein, daß man ihr Fanatismus oder Hysterie unterstellt. Alle sagen, daß sie extrem exzentrisch ist, daß sie sich wie ein Mann kleidet und sich an allen möglichen anstößigen Orten herumgetrieben hat. Und natürlich hält man sie für unmoralisch und verlottert.«
Hester verblüffte, daß Victoria sich so gut auskannte. Wie hatte sie das nur in Erfahrung gebracht? Doch dann fiel ihr ein, daß sie ja auch einen dramatischen Absturz in ihren Lebensverhältnissen erlitten hatte. Vor der Schande ihres Vaters war Victoria selbst eine junge Lady gewesen, und gerade deswegen hatte sie die Schattenseiten des Daseins um so bewußter und nachhaltiger erlebt als Leute wie Robert, die keine Not kannten.
Robert starrte sie an. »Wer sagt das?« fragte er. »Das ist total ungerecht!«
Victoria errötete. Gleichwohl antwortete sie mit fester
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