Die russische Gräfin
damals nicht erkannt habe, und bitte Prinzessin Gisela und das Gericht um Verzeihung dafür.«
»Ich bin mir sicher, daß kein vernünftiger Mensch Ihnen einen Vorwurf machen würde, Doktor«, tröstete ihn Rathbone.
»Wer von uns wäre schon auf die Idee gekommen, nach Prinz Friedrichs Tod im Haus eines hochangesehenen Adeligen nach Gift zu suchen? Ich jedenfalls nicht, und wenn jemand hier das Gegenteil behauptet, dann würde ich Sie sofort dagegen in Schutz nehmen.«
»Danke«, murmelte Gallagher. »Sie sind sehr großzügig, Sir Oliver. Aber die Medizin ist nun mal mein Beruf und meine Aufgabe. Ich hätte auf die Augen achten und den Mut und die Sorgfalt haben müssen, die auffällige Erweiterung zu beachten.«
»Sie haben Ihren Mut jetzt bewiesen, Sir, und dafür sind wir Ihnen dankbar. Das ist alles, was ich zu fragen hatte.«
Harvester stand auf. Er war blaß geworden und wirkte bei weitem nicht mehr so gelassen wie am Anfang.
»Dr. Gallagher, Sie vertreten jetzt also die Auffassung , Eibensaft sei die Ursache von Prinz Friedrichs Tod. Können Sie uns erklären, wie es ihm verabreicht worden sein könnte?«
»Es dürfte ihm ins Essen oder in ein Getränk gemischt worden sein.«
»Hat es einen angenehmen Geschmack?«
»Ich habe keine Ahnung. Wahrscheinlich eher nicht.«
»Ist es in den Blättern oder Früchten, ist es fest oder flüssig?«
»Es ist eine Flüssigkeit, die aus den Blättern oder der Rinde destilliert wird.«
»Nicht aus den Früchten?«
»Nein, Sir. Merkwürdigerweise ist die Frucht das einzige, was an der Eibe nicht giftig ist. Wie auch immer, Prinz Friedrich starb im Frühling, als die Bäume noch keine Früchte trugen.«
»Wurde es demnach destilliert?« hakte Harvester nach.
»Richtig. Niemand ißt die Blätter oder die Rinde.«
»Also hätte jemand Blätter oder die Rinde sammeln und dann eine beträchtliche Zeit kochen müssen, richtig?«
»Ja.«
»Aber Sie haben uns vorhin gesagt, daß die Prinzessin nie in die Küche ging. Hatte sie die fürs Destillieren nötigen Geräte im Zimmer?«
»Das glaube ich nicht.«
»Hätte sie es über dem Kaminfeuer tun können?«
»Garantiert nicht. Abgesehen davon wäre das sofort bemerkt worden.«
»War der Kamin in ihrem Zimmer mit einem Einsatz für Wasserkessel ausgestattet?«
»Nein.«
»Ging sie in den Garten, um Eibenblätter oder Rinde zu sammeln?«
»Das weiß ich nicht. Ich glaube, sie wich nie von der Seite des Prinzen.«
»Erscheint Ihnen die Annahme begründet, Prinzessin Gisela habe die Mittel und die Gelegenheit gehabt, ihren Mann zu vergiften, Dr. Gallagher? Und sehen Sie ein mögliches Motiv?«
»Weder das eine noch das andere.«
»Danke, Dr. Gallagher.« Harvester wandte sich dem Publikum zu. »Falls Gräfin Rostova nicht gerade einen wichtigen Umstand kennt, von dem wir nichts wissen, und weiterhin vorzieht, ihn vor den Behörden zu verbergen, erscheint es nur logisch, daß sie selbst nicht mehr daran glaubt und ihre Beschuldigung falsch ist. Und das weiß sie genauso wie wir!«
Am Abend des zweiten Prozeßtages besuchte Rathbone seinen Vater, der beide Verhandlungen im Gerichtssaal mitverfolgt hatte. Oliver wollte nur noch heraus aus der Enge der Innenstadt und alles, was sich vor Gericht abgespielt hatte, hinter sich lassen. So nahm er sich einen Hansom und fuhr bei böigem Wind nach Primrose Hill. Da auf der Straße nicht viel los war, kam er rasch voran.
Als Oliver kurz nach neun Uhr eintraf, saß Henry Rathbone vor dem prasselnden Feuer und las in einem philosophischen Werk, auf das er sich freilich nicht so recht konzentrieren konnte. Er legte es beiseite und sah auf. Sein Gesicht war blaß vor Sorge.
»Portwein?« Er deutete auf eine Flasche auf dem kleinen Tisch. Daneben stand nur ein Glas, aber im Glaskabinett waren genügend. Wegen des heftigen Regens waren die Vorhänge zugezogen. Diese schweren braunen Samtgardinen, die hier schon seit zwanzig Jahren hingen.
Oliver setzte sich. »Nein, danke«, brummte er. »Später vielleicht.«
»Ich war heute im Gericht«, erzählte Henry nach kurzem Schweigen. »Du brauchst mir nichts zu erklären.« Nach Olivers nächsten Schritten erkundigte er sich nicht.
»Ich habe dich gar nicht gesehen. Sei mir nicht böse.« Oliver starrte ins Feuer. Vielleicht hätte er doch einen Brandy nehmen sollen. Er hätte so herrlich angenehm in der Kehle gebrannt, zumal ihm wider Erwarten doch etwas kühl war.
»Ich wollte dich nicht ablenken«, erklärte Henry. »Aber
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