Die russische Gräfin
Stimme: »Leute, die wütend sind, scheren sich nicht um Gerechtigkeit.«
Er runzelte mißbilligend die Stirn. »Warum sollten sie wütend sein? Zorah mag Gisela verletzt haben, aber noch ist kein Urteil gefällt worden. Und wenn es wirklich Mord war, egal wer der Schuldige ist, dann sollte man ihr dankbar sein, daß sie die Wahrheit ans Licht gebracht hat. Ich habe das Gefühl, die Leute tun genau das, was sie ihr vorwerfen: Sie ziehen voreilige Schlußfolgerungen und verurteilen einen Menschen ohne jeden Beweis, Was für Heuchler sie doch sind!«
Victoria sah ihn lächelnd an. In ihre klaren Augen trat ein sanfter Ausdruck. »Natürlich sind sie das«, sagte sie.
Robert wandte sich an Hester. »Und wie geht es Ihrem Freund Sir Oliver? Er muß sich doch entsetzlich fühlen, wenn es so schlecht für sie aussieht und er überhaupt nichts für sie tun kann.«
»Ich glaube, er hat noch keine Strategie«, antwortete sie offen.
»Um die Gräfin zu retten, müßte er beweisen, daß es jemand anderer war, aber wir haben nichts in der Hand.«
»Das tut mir leid.«
Victoria stand umständlich auf. Sie hatte Schmerzen, wollte sich aber vor Robert nichts anmerken lassen und streckte eilig den Rücken durch. »Es wird spät, und ich muß gehen. Nach all den Hiobsbotschaften sind Sie sicher müde. Ich lasse Sie wohl besser allein weiterreden. Vielleicht kommt Ihnen ja noch eine Idee.« Sie sah Robert an, zögerte kurz, blinzelte und zwang sich dann wieder zu einem Lächeln. »Gute Nacht.« Sie drehte sich abrupt um und humpelte zur Tür hinaus.
Hester verbarg ein Lächeln. Der Ausdruck in Victorias Augen, ihr Tonfall und die Färbung ihrer Wangen hatten ihre wahren Gefühle verraten. Sie hatte sie so deutlich erkannt, als wären sie ausgesprochen worden. Vielleicht sogar noch deutlicher, denn Worte können lügen.
Sie wandte sich Robert zu. Sein Mund war verkniffen, sein Blick verhüllt. Er litt. Er starrte auf seine Beine hinunter, die ihm der Diener auf einen Schemel gelegt hatte. Ein Fuß war leicht verkrümmt, doch er konnte ihn nicht von selbst durchstrecken. Hester sah das, aber ihm jetzt zu helfen, wäre eine Demütigung für ihn gewesen.
»Danke, daß Sie mir Victoria gebracht haben«, sagte er hastig. »Ich glaube, ich werde sie immer lieben. Ich wünschte, ich könnte ihr etwas geben, das sich mit dem vergleichen ließe, was sie mir geschenkt hat.« Er seufzte. »Aber ich habe nichts. Wenn ich laufen könnte!… Wenn ich nur stehen könnte!« Seine Stimme brach. Er kämpfte um seine Fassung, doch der Schmerz blieb.
Hester wußte, daß Victoria ihm nichts von ihrem eigenen Kummer gesagt hatte. Der ging nur sie etwas an. Doch wenn Robert weiter glaubte, er allein leide und sei nichts wert, verhinderte er am Ende noch ihr gemeinsames Glück.
Mit leiser Stimme fing sie an zu sprechen. Vielleicht beging sie einen nicht wiedergutzumachenden Irrtum, wenn sie Victorias Vertrauen brach, aber sie sagte es ihm.
»Sie können ihr Liebe geben. Kein Geschenk könnte so…« Sein Oberkörper wirbelte herum. Wut und Frustration blitzen in seinen Augen auf, doch Hester glaubte auch Schmerzen und etwas noch Tief ergehendes auszumachen: Scham.
»Liebe!« stieß er bitter hervor. »Von ganzem Herzen…, aber das ist ja nicht genug, oder? Ich kann nicht für sie sorgen. Ich kann sie nicht schützen. Ich kann sie nicht lieben, wie ein Mann eine Frau liebt! ›Mit meinem Körper bete ich dich an!‹« Seine Stimme brach. Ungeweinte Tränen über seine Einsamkeit und Hilflosigkeit raubten ihm die Sprache. »Ich kann ihr keine Liebe schenken, ich kann ihr keine Kinder schenken!« stöhnte er schließlich.
»Auch sie kann Ihnen das alles nicht schenken«, entgegnete Hester sanft. Sie hätte ihm so gern die Hand gehalten, wußte aber, daß die Zeit dafür noch nicht reif war. »Sie wurde als junges Mädchen vergewaltigt. Die Folge war eine Abtreibung bei einer Engelmacherin. Die ging aber so dilettantisch vor, daß Victoria sich nie davon erholt hat. Das ist der Grund für ihre Behinderung und ihre ständigen Schmerzen, die manchmal unerträglich schlimm sind. Sie kann mit keinem Ehemann verkehren, und ganz bestimmt wird sie nie ein Kind bekommen.«
Robert wurde aschfahl. Er zitterte am ganzen Leib vor Entsetzen und ballte unbewußt in einem fort die Fäuste. Einen Moment lang dachte Hester, er würde sich übergeben.
»Vergewaltigt?« keuchte er mit vor Abscheu entstelltem Gesicht.
Hester haßte sich bereits dafür, daß sie es
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