Die russische Herzogin
nach einer sehr unartigen Begrüßung aus«, hörte Wera einen der Erwachsenen missbilligend sagen, während sie von Evelyn weggeführt wurde. Am Kindertisch angekommen, beugte sich die Hofdame zu ihr hinunter.
»Die Gäste gehen bald. Glaubst du, du schaffst es, bis dahin brav zu sein, ohne deine Tante ein drittes Mal zu blamieren?«
Wera, der das schadenfrohe Grinsen nicht gefiel, das die Jungen der Familie Pontiatin ihr zuwarfen, riss ihre Hand aus Evelyns Umklammerung los. Mit verschränkten Armen setzte sie sich wieder an den Tisch und schaute stur geradeaus.
Kurz darauf spielten die Kinder einträchtig miteinander. Augustes Töchter erklärten Wera ein Würfelspiel, in dem es darum ging, eine bestimmte Anzahl von Punkten zu erreichen. Da Wera eine glückliche Hand beim Werfen hatte, kam ihr Punktestand dem Sieg bald sehr nahe. Im Gegensatz dazu würfelte der ältere der Pontiatin-Jungen fast nur Einsen und Zweien. Nach einem neuerlichen misslungenen Wurf schnaubte er verächtlich.
»Würfelspiele! Das ist doch nur für kleine Kinder.«
Weras Wangen waren fiebrig gerötet, sie konnte es kaum erwarten, endlich wieder an die Reihe zu kommen.
»Das sagst du nur, weil du so abgrundtief schlecht spielst«, sagte sie und wollte ihm die Würfel fortnehmen. Doch der Junge zog seine Hand nach hinten.
»Bist du jetzt die Tochter von Großfürst Konstantin oder nicht?«, wollte er von ihr wissen.
»Und wenn’s so wäre?«, sagte Wera und versuchte, dem Jungen unterdem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein zu verpassen. Warum gab er ihr nicht endlich die Würfel?
»Habe ich’s mir doch gedacht!« Die Augen ihres Widersachers glitzerten arglistig. »Wladimir, erzähl der jungen Dame doch bitte, wer unser Vater ist.«
Sofort legte sein Bruder mit geblähter Brust und Stolz in der Stimme los: »Unser Vater ist Anführer der riesengroßen russischen Flotte. Er befehligt Millionen von Matrosen! Er hat für Russland schon in Indien und Australien gekämpft, und in Hongkong war er auch und hat die Engländer verjagt!«
»Na und? Wen interessiert das schon?«, sagte Wera und schüttelte eifrig den Würfelbecher, den sie dem Burschen endlich abgenommen hatte.
»Oh, ich finde diesen Umstand äußerst interessant. Unser Vater hat immerhin in der ganzen Welt den Ruhm Russlands gemehrt. Dein Vater hingegen hat es nicht einmal in Polen zu etwas gebracht. Hätte er dort nicht Aufstände niederschlagen sollen? Stattdessen ist er Opfer eines Attentats geworden. Unser Papa meinte, damit habe dein Vater Schande über Russland gebracht.«
Wera blinzelte. Für einen langen Moment versteifte sich ihr Körper, um dann zu explodieren. Nie, niemals würde sie es zulassen, dass jemand so über ihren Vater sprach!
Der Würfelbecher samt Inhalt fiel auf den Boden. Zum dritten Mal in kürzester Zeit schrammten die Beine ihres Stuhls über den blankpolierten Boden. Bevor der ältere der Jungen wusste, wie ihm geschah, schlug Wera auf ihn ein. Im nächsten Moment lagen die Kinder halb unter dem Tisch. Weder Augustes Söhne noch der zweite Sohn der Pontiatins ließen es sich nehmen, an der Rauferei teilzuhaben.
Eigentlich war ihr erster Tag in Stuttgart auch nicht anders verlaufen als die meisten Tage zu Hause, dachte Wera, als sie sich müde und unruhig zugleich in dem ihr fremden Bett hin und her wälzte. Sie hatte mal wieder alles verdorben. Sie war an allem schuld.
4. KAPITEL
Ü ber die Dokumente, Listen und Ausgabenbücher auf ihrem Schreibtisch hinweg warf Olly einen gedankenverlorenen Blick in ihren Kalender. Der fünfte Januar. Während sich die Württemberger voller Tatendrang ins neue Jahr stürzten, würden sie im Kronprinzenpalais am morgigen Tag russische Weihnachten feiern. Erst danach würde das Leben auch für sie wieder seinen gewohnten Gang gehen. Und da Olly es seit fast zwanzig Jahren gewohnt war, nach zwei Kalendern zu leben – nach dem julianischen ihrer Heimat und dem gregorianischen, der in Württemberg galt –, fühlte sie am heutigen Tag einen gewissen Unwillen gegen ihre Schreibtischarbeit. Wie viel lieber hätte sie den Tag mit Festvorbereitungen verbracht! Hätte Geschenke in buntes Seidenpapier gewickelt. Mit der Obersthofmeisterin letzte Details für das aufwendige Menü durchgesprochen. Und mit Wera ein paar russische Weihnachtslieder eingeübt, schließlich sollte es dem Kind bei seinem ersten großen Fest in der Fremde an nichts fehlen.
Stattdessen saß sie seit Stunden über ihren Büchern und
Weitere Kostenlose Bücher