Die Saat - Ray, F: Saat
…«
»Allerdings«, redet Christian weiter, »fragt man sich schon, was eine Rüstungsfirma da soll, und diese Milward-Foundation, die hatte doch …«
»… mit Geburtenkontrolle zu tun«, unterbricht ihn Camille. »Also, ich glaube nicht, dass Véronique Regnard das alles erfunden hat, die drei Säulen, die Weltbeherrschung, The Project …«
»Ich wäre da mal nicht so sicher.« Christian geht zu seinemSchreibtisch und nimmt von einem Stapel das oberste Blatt Papier, faltet es der Länge nach in der Mitte und lässt es zu Camille segeln. »Hattest du wohl angefordert. Sorry, ich war neugierig.«
Der Bogen landet tatsächlich auf ihrem Schreibtisch. Camille faltet ihn auf.
Die Patientin Véronique Regnard, geboren am 23.11.1970, wurde am 23. Januar 2004 von ihrem Ehemann Laurent Regnard in meine Klinik gebracht. Laut seiner Schilderung war Véronique, seine Frau, auf dem Balkon auf einen Stuhl gestiegen, in der Absicht, auf das Betongeländer zu klettern, um von dort auf einen Baum zu »fliegen«. Die Wohnung liegt im sechsten Stock, und der Baum ist laut Ehemann mindestens dreißig Meter vom Haus entfernt.
»Ich bin ein Vogel, ich kann fliegen«, soll sie dabei gerufen haben. Nur unter Gewaltanwendung konnte der Ehemann seine Frau vom Balkon wegbringen.
Seit geraumer Zeit, erklärte er mir, esse seine Frau nur noch Körner aus dem Reformhaus, trinke Mineralwasser und habe sich auf diese Weise schon einmal fast zu Tode gehungert, bis er sie in ein Krankenhaus gebracht habe.
Die erlittene Totgeburt habe seine Frau ohne jegliche Gefühlsregung hingenommen.
Prof. Dr. Emile Muller
Zerbrechlich wie ein Vogel, hat sie gedacht, als sie an Véroniques Bett stand. Das fällt ihr jetzt wieder ein.
»Na, meinst du immer noch, du solltest ihr glauben?«, fragt Christian.
Camille antwortet nicht. Vielleicht ist es zu verführerisch, an eine Verschwörung zu glauben. Verschwörungen produzieren Schlagzeilen, verkaufen Zeitungen – und machen einen berühmt. Sie könnten viel mehr bewegen, Camille …
Mein Gott, ich muss Papa aus der Klinik holen, schießt es ihr durch den Kopf.
13 Mittwoch, 2. April
Bali
Nicolas beobachtet Kim, wie sie in einem sonnengelben Sarong über den schmalen Pfad des Gartens geht, nein, schwebt. Nirgendwo hat er Menschen sich so anmutig bewegen sehen wie hier. Das Paradies … Er seufzt, stellt sich ein wenig tiefer in den Schatten der Verandasäule, um ihr zuzusehen, wie sie Opferschälchen mit Reis vor eine kleine Buddha-Statue am Teich mit den Seerosen stellt und ein Räucherstäbchen anzündet. Zum ersten Mal seit Tagen hat er wieder tief geschlafen. Ohne Albträume. Die sind erst beim Aufwachen wiedergekommen. Kim sieht ihn nicht, sie bückt sich und hebt welke Hibiskusblüten vom Boden auf. Nicolas sieht den Rauchringen zu, die lautlos über das lächelnde Antlitz des Steinbuddhas streichen und dann hinaufsteigen in den morgenhellen Himmel. Irgendwo da am Horizont meint er den Vulkan Gunung Agung, den »Großen Berg«, zu erkennen. Der Sitz der Götter und der Mittelpunkt der Welt.
Pierre hat ihm gestern erzählt, dass er 1963 zum letzten Mal ausgebrochen ist und zweitausend Menschen den Tod brachte. Kim schwebt weiter über die Steinplatten des Gartens hinüber zur niedrigen Mauer, über die üppig rot blühende Blumen ranken. Jetzt erst erkennt er die Göttinnenfigur aus grauem Stein. Mit einem Palmblatt fegt Kim die welken Blüten und Blätter weg. Wieder stellt sie eine Opferschale ab und zündet ein Räucherstäbchen an. HES – warum sie? Gibt es nicht genügend alte oder unzufriedene Menschen, für die der Tod die Erlösung wäre? Als sie sich umdreht, trifft ihn ihr Blick. Sie zuckt kaum merklich zurück, aber ihm ist es nicht entgangen, hat sie sich doch unbeobachtet gefühlt.
»Guten Morgen, Kim.«
»Guten Morgen.«
Sie kommt auf ihn zu. Ob sie weiß, dass Pierre es ihm erzählt hat?
»Es ist wunderschön hier.«
Ihr Lächeln ist bezaubernd. Oh ja, man kann auch eine Frau anbeten …
»Schön, dass es dir hier gefällt.«
Er ist sich fast sicher, dass Pierre ihr nichts gesagt hat. Da ist keine Trauer in ihren Augen, kein Bedauern, keine Angst. Sie hat gelernt, mit der Krankheit zu leben, bis es so weit ist, bis es Zeit ist für den Tod …
»Ich würde für immer hierbleiben, wenn ich könnte.«
»Das liegt in deiner Hand.«
»Oh, und wovon soll ich leben? Miete zahlen?«
»Es lassen sich Wege finden. Man braucht nicht viel.« Sie lächelt wieder dieses
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