Die Saat - Ray, F: Saat
geöffnet. Er könnte rasch hinaus- und dann ganz ungerührt an ihnen vorbeigehen. Er hat einen kleinen Vorteil, denn sie rechnen nicht mit ihm. Sie sind fest davon überzeugt, dass er in seinem Bett liegt.
Er macht einen Schritt, noch einen und geht rechts an ihnen vorbei. Weiter, nicht stehen bleiben, weiter, er lauscht auf ihre Stimmen, sie steigen tatsächlich in den Aufzug, das Geräusch der zugleitenden Türen lässt ihn aufatmen.
Die restlichen Stockwerke geht er zu Fuß. Unten in der Eingangshalle gönnt er sich eine kurze Verschnaufpause. Zwei uniformierte Polizisten eilen ihm von draußen entgegen, sie nehmen ihn nicht wahr, aber erst als er endlich im Freien steht und ihm die kalte Luft ins Gesicht schneidet, fühlt er sich sicher. Doch dieses Gefühl dauert nur einen Moment, bis ihn eine Stimme herumfahren lässt.
»Ethan Harris?«
Sie wird Yvonne Béri einen Auftritt im Fernsehen verschaffen müssen. Das war Yvonnes Bedingung für die Information.
Als sie jedoch in die Klinik kommt, in der Ethan Harris behandelt werden soll, schwirren überall Polizisten herum, und auf der Station behaupten die Schwestern, Ethan Harris wäre aus seinem Zimmer verschwunden. Es kostet Camille noch drei Telefonate, bis sie seine Adresse herausgefunden hat. Aber dann, als sie den Motor ihres brombeerfarbenen Pluriel anlässt, um zu Ethan Harris’ Wohnung zu fahren, überquert ervor ihr die Straße, um zum Taxistand außerhalb der Klinik zu gelangen. Ein blonder Typ, das Foto hat sie im Internet gesehen – und auch in der Buchhandlung, vor der sie manchmal einen Parkplatz findet. Ein bisschen erinnert er sie an den jüngeren Robert Redford, das gleiche blonde Haar, der lässige Schnitt, die Sommersprossen und die blauen Augen. Ein Wunder fast, dass sie ihn auch jetzt erkennt. Seine linke Gesichtshälfte und auch sein Hals sind stark gerötet, wund, wie aufgeschürft, und seine Augen sind verquollen. Sein Haar ist strohig und steht wirr nach allen Seiten ab. Rasiert hat er sich auch nicht. Aber sein braunes Breitcordjackett und die Jeans sehen neu aus. Auch die H&M-Tüte, die er unter dem Arm trägt, passt irgendwie nicht. Sie hat das Fenster auf der Beifahrerseite heruntergekurbelt.
»Ethan Harris? Camille Vernet. ParisCult und Tout Menti!«
Er starrt sie an, als hätte sie Chinesisch gesprochen.
»Kommen Sie schon, oder wollen Sie laufen?«
Ein Polizeiwagen taucht hinter ihm auf, sie ist sicher, sie kommen wegen ihm.
»Jetzt machen Sie schon!« Sie streckt die Hand zum Türgriff aus, doch da hat er wohl den Polizeiwagen bemerkt, macht die Tür auf, steigt rasch ein.
»Camille Ver…«
»Das sagten Sie bereits«, fällt er ihr ins Wort, nicht gerade freundlich. Sie sieht kurz zu ihm hinüber, er hat die alberne Plastiktüte auf den Knien und hält sie umklammert, als wäre sie ein Airbag, der ihn rettet. Sie gibt Gas.
»Sie kommen mir bekannt vor. Sie haben die Talkshow gemacht.«
Die Ampel vor ihr schaltet auf Rot, sie muss scharf bremsen.
»He! Ich bin nicht einer Explosion entkommen, um jetzt in Ihrem Auto zu sterben!«
»Entschuldigen Sie!«
Lass ihm Zeit, er hat wirklich was Schlimmes durchgemacht.
Ohne Aufforderung wird er nicht sprechen, weiß sie auf einmal, auch wenn sie ihm Zeit gibt. »Was wollte die Polizei da in der Klinik?«, fragt sie also.
Sein Gesicht ist reglos, bemerkt sie, als sie einen kurzen Blick zur Seite riskiert. Vielleicht liegt es an der Brandwunde. »Mich retten.«
»Die Polizei wollte Sie retten? Vor wem?«
»Keine Ahnung. Man will mich umbringen. Und wenn sie es weiterhin probieren, haben sie irgendwann auch Erfolg damit.«
Es klingt fast unbeteiligt, wie er das sagt, aber sie ahnt, dass das nur Fassade ist. Solche Typen kennt sie. Sie wechselt die Spur, überholt eine Fahrschule. Christian wird sich gleich wundern, wie schnell sie einen schwer verletzten Patienten aus der Uniklinik herausbekommen hat.
»Was wollen Sie von mir?«, fragt er endlich.
»Mit Ihnen reden.«
»Worüber?«
»Über Tromsø – und über Ihre Frau zum Beispiel.« Ein kleiner Rest Unsicherheit ist geblieben, obwohl die Informationen von Yvonne Béri in den drei Jahren, seit sie sich kennen, in neun von zehn Fällen richtig gewesen sind. Dass die Presse den Mord an Sylvie Harris bisher nicht erwähnt hat, wundert sie. Yvonne Béri meint, um den Täter über den Stand der Ermittlungen im Dunkeln zu lassen.
Wieder Schweigen, sie merkt, dass er sie von der Seite mustert.
»Kannten Sie Sylvie?«,
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