Die Saat - Ray, F: Saat
Er erinnert sich an den Schlüsselbund, den man ihm ausgehändigt hat und der jetzt in der Nachttischschublade liegt.
Der Anwalt nickt, klemmt die Mappe unter den Arm und zieht den Reißverschluss seiner Windjacke bis zum Hals zu, als müsste er sich auf starken Gegenwind gefasst machen.
»Ich müsste es bis heute Nachmittag schaffen.« Er lässt seine Zahnreihen aufblitzen, aber es sieht deutlich bemühter aus als zu Anfang, und geht.
Ethan sieht noch zur Tür, als sie schon längst wieder geschlossen ist. Die Summe steht noch immer vor seinen Augen. Eins Komma fünf Millionen Euro in bar.
Wer warst du, Sylvie?
Seit fast zwei Wochen riskiert er sein Leben, und er ist womöglich mit schuld am Tod von zwei oder drei Menschen – und wofür? Um die Geheimnisse seiner Frau zu entdecken? Er schlägt die Decke zurück, unterdrückt die Schmerzen in seinem Arm, in seinem Nacken und Hals und tastet sich zur Tür. Er muss seinen Kreislauf in Schwung bringen. Diese verdammten Schmerzmittel machen ihn fertig, nehmen ihm die Kontrolle über seinen Körper. Er macht die Tür auf, tritt zum ersten Mal auf den Flur – und sieht direkt in das erstaunte Gesicht eines uniformierten Polizisten, der von seinem Stuhl neben der Tür aufblickt.
Ethan schätzt ihn auf Ende fünfzig, so jemanden stellt man für solche Aufgaben ab. »Passen Sie auf mich auf?«
»Ja.« Der Polizist lächelt schüchtern, steht auf und zieht den Hosenbund hoch. »Sie sind doch der Schriftsteller, nicht wahr? Etan Arri?«
»Nein. Sie irren sich.« Er hat noch nicht einmal das Gefühl, zu lügen. Er ist ein anderer geworden.
»Oh, meine Frau ist eine richtige Leseratte«, redet der Polizist einfach weiter.
Früher hätte er sich über diese Bemerkung gefreut. Jetzt perlt sie an ihm ab wie an kaltem Glas.
»Sitzen Sie den ganzen Tag hier?«, fragt er dennoch.
»Bis um fünf, dann kommt ein Kollege.«
»Lejeune fürchtet, dass mich jemand bedroht?«
»Allerdings.«
»Haben Sie schon jemanden gesehen?«
Er lächelt und schüttelt den Kopf. »Nur den Anwalt, aber der hatte eine Erlaubnis von Lejeune. Und eben war noch jemand von der Station da, aber ich hab ihn weggeschickt. Hab gesagt, Sie hätten Besuch.«
»Stehe ich unter Arrest?«
Der Polizist errötet. »Na, Sie sollen Ihr Zimmer nicht verlassen. Na ja, legen Sie sich doch einfach wieder hin. Sie sehen aus, als ob Sie ein bisschen Erholung brauchen könnten.«
Ethan nickt. Arrest also. Vielleicht verdächtigt ihn Lejeune immer noch. Er nickt dem Polizisten zu und geht zurück ins Zimmer. Schwindel überfällt ihn, und er friert plötzlich erbärmlich.
19
Hamburg
So ist das also, wenn man allein lebt, denkt Jelena noch, als die Sanitäter die Bahre mit dem Plastiksack aus der Wohnung tragen. Ein unauffälliger und noch gar nicht alter Mann ist er gewesen, dieser Herr Schomerus. Sie hat nie gefragt, aber sie glaubt, dass er früher mit einer Frau in der Wohnung gelebt hat. Beim ersten Mal, als er ihr im Schlafzimmerschrank das Bügelbrett gezeigt hat, hat sie das Bild mit der nackten Frau auf dem Motorrad entdeckt und ihn argwöhnisch betrachtet. Aber er war immer korrekt, und immer wirkte er irgendwie abwesend, wenn er ihr mal begegnet ist. Denn meist hat er ihr alle zwei Wochen die fünfundvierzig Euro fürs Putzen aufdem Küchentisch liegen gelassen. Viel Unordnung und Dreck hat er nicht gemacht. Er war ja oft verreist. In der ganzen Welt ist er gewesen, hat er mal gesagt, als er vor seiner Weltkarte an der Wohnzimmerwand stand und ein Fähnchen in irgendeine Stelle piekste.
Wer weiß, wann es passiert ist? Wie lang er schon so tot da auf dem Schlafzimmerboden gelegen hat? Vielleicht kommt ja außer ihr niemand in die Wohnung? Den Verwesungsgestank hat sie immer noch in der Nase, den kriegt man auch so schnell nicht aus der Wohnung raus. Allein wie das alles in den Teppich im Schlafzimmer eingesickert ist. Unvorstellbar, wenn sie so was hätte wegmachen müssen. Da hätte man einen Spezialreiniger nehmen müssen. Aber welchen? Ob es mit Chlor gegangen wäre?
20
Paris
Als Ethan wieder aufwacht, löst sich langsam ein Gesicht aus einer verschwommenen Umgebung.
»Was wäre, wenn ich den Auftrag hätte, Sie umzubringen?« Die Stimme kennt er.
»Sie?« Der Anwalt. Wie war noch sein Name? Ihm ist, als hätte sich sein Gedächtnis aufgelöst.
Chéron, Mathis Chéron, richtig. Chéron legt ihm zwei große Tüten von H&M aufs Bett. »Ich hab meine Mitarbeiterin losgeschickt, sie kauft
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