Die Saat - Ray, F: Saat
dort immer für ihren Freund ein.«
»Danke.« Es ist ihm egal, welche Klamotten er trägt, um hier herauszukommen. »Und haben Sie an das Handy …«
Nickend zieht der Anwalt das Telefon aus seiner Wildlederjacke. »War allerdings nicht ganz billig.« Der Anwalt hält das iPhone zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Danke. Schreiben Sie alles auf die Rechnung.«
»Schon gemacht. Meine Nummer hab ich übrigenseingespeichert. Sicherheitshalber.« Er lässt das Handy in eine der Tüten gleiten. »Die Preisetiketten sind schon abgetrennt, also umtauschen können Sie die Sachen nicht mehr. Aber … tun Sie nichts Unüberlegtes. Und … ich will auf keinen Fall in die Sache hineingezogen werden. Und wenn die Polizei fragt, woher …«
Ethans Handbewegung lässt ihn verstummen. »Alles Gute«, sagt er nur noch leise und geht.
Als er zur Tür hinaus ist, wirft Ethan einen Blick in die Tüten. Weiße Boxershorts im Fünferpack, schwarze Socken im Dreierpack, weiße T-Shirts im Dreierpack, Jeans im Doppelpack. Er wollte nur etwas, um aus diesem Krankenhaus herauszukommen. Jetzt hat er einen ganzen Koffer mitzuschleppen. In der anderen Tüte sind ein beiges Breitcordjackett, ein paar Sneakers, ein nachtblauer Angora-Rollkragenpulli, das iPhone – und ein Umschlag, in dem zehn neue Zwanzig-Euro-Scheine stecken.
16 Uhr 55 zeigt sein Wecker. Sie werden gleich zum Temperatur- und Blutdruckmessen kommen. Er stopft die Sachen wieder in die Tüten, legt den Wohnungsschlüssel aus dem Nachttisch dazu und schiebt alles unter die Decke. Die Tür geht auf.
»Wie geht es Ihnen?« Es ist nicht die Krankenschwester mit den kalten Fingern.
»Wer sind Sie?« Irgendetwas macht ihn stutzig. Der merkwürdige Akzent? Die graue Hose unter dem Kittel? Nicht alle Ärzte tragen weiße Hosen …
Der Mann kommt näher. Nein, er hat diesen Arzt noch nie gesehen, dieses flächige, kantige Gesicht mit der breiten, kurzen Nase und dem wie angeklebt aussehenden dunkelblonden Haar hätte er ganz sicher wiedererkannt.
»Mich behandelt Dr. Kapuscinski«, sagt er betont laut. Der Mann hat sein Bett fast erreicht. »Ich kenne Sie nicht. Wer sind Sie?«
Der Mann antwortet nicht.
»Bleiben Sie, wo Sie sind!«
Er reißt den gesunden Arm hoch, drückt auf den Knopf über seinem Kopf, doch im selben Moment stürzt der Mann auf ihn zu, Ethan rollt sich über die linke Seite aus dem Bett, schlägt auf dem Boden auf und hört, wie die Tür aufgerissen wird.
Der Polizist stürzt herein und brüllt: »Hände hoch!«
Ethan sieht, wie der vermeintliche Arzt es schafft, an dem Polizisten vorbeizukommen.
»Monsieur Aris! Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ja, alles okay!«, versichert er rasch.
»Wir kriegen ihn!«, sagt der Polizist und rennt aus dem Zimmer.
Hastig holt Ethan die Tüten unter der Decke hervor, zieht sein Krankenhausnachthemd aus, flucht, weil er sich noch viel weniger bewegen kann, als er angenommen hat, schafft es aber, zieht Unterwäsche, Strümpfe, Hose, Schuhe, Pullover, Jackett an und eilt mit der halb vollen Plastiktüte zur Tür hinaus. Am linken Ende des Flurs steht eine Gruppe von aufgeregten Schwestern, sodass er auf die andere Seite der Station wechseln muss, um von dort zur Treppe oder zu den Aufzügen zu gelangen. Mit der Tüte in der Hand fällt er von hinten vielleicht gar nicht auf, falls sich doch jemand umdrehen sollte. Als er um die Ecke biegt, stößt er fast gegen einen Verbandswagen. Er meidet den Aufzug und nimmt stattdessen die Treppe. In welchem Stockwerk befindet er sich eigentlich? Im Treppenhaus liest er sieben. Sieben Stockwerke? Noch zwei, dann nimmt er den Aufzug. Nur zwei Stockwerke nach unten, das wird er doch schaffen, zum Teufel noch mal! Der Schweiß schießt aus allen Poren, und sein Herz hämmert. Noch eine halbe Treppe. Jetzt. Er stößt die Glastür auf und steht vor den Aufzügen. Dort wartet eine Krankenschwester, die würdigt ihn jedoch keines Blickes. Die Türen gleiten auf, er lässt ihrden Vortritt. Nein, niemand drin. Die Türen schließen sich, gleich ist er draußen. Gleich. Vierter Stock. Die gelbe Lampe über der Drei leuchtet. Der Aufzug stoppt. Ethan hält die Luft an, dreht sich ein wenig zur Seite, sodass die verletzte Gesichtsseite nicht gleich zu erkennen ist. Die Türen gleiten auf. Nein! Dort stehen heftig gestikulierend der Polizist, Lejeune und ihr Assistent. Wie sind die so schnell hergekommen? Warum haben sie ausgerechnet diesen Aufzug angehalten?
Jetzt sind die Türen ganz
Weitere Kostenlose Bücher