Die Saat - Ray, F: Saat
nimmt Mathilde die linke Spur, und obwohl er den Kilometerzähler nicht sehen kann, ist er sicher, dass sie die erlaubte Höchstgeschwindigkeit von hundertzwanzig um mindestens zwanzig Stundenkilometer überschreitet.
»Von diesem Schließfach in Gibraltar wusste ich auch nichts«, beendet Mathilde das Schweigen, das sich zwischen ihnen ausgebreitet hat. »Aber jetzt verstehe ich, warum Sylvie im Januar unbedingt nach Gibraltar wollte.«
»Und in Vincents Testament wurde es nicht genannt?«
»Nein«, sie schüttelt den Kopf, »sonst hätte ich es ja erfahren. Vielleicht hat er ihr einen Brief geschickt«, sie seufzt, »er hat sie sehr geliebt, was Sylvie leider nicht erwidern konnte.« Mühelos zieht sie links an einem weißen BMW vorbei. »Als Sylvie sechzehn wurde, hat sie ihren Vater vehement abgelehnt. Das hat ihn sehr getroffen.«
»Aber das ist so ein Alter …«, schaltet sich Camille vom Rücksitz ein.
»Ja, aber Sylvie wurde älter«, Mathilde sieht in den Innenrückspiegel, »und das Verhältnis hat sich kaum geändert. Nur am Schluss. Die letzten Tage ist sie nicht mehr von seiner Seite gewichen. Als ob sie alles wiedergutmachen und nachholen müsste, was sie in den letzten zwanzig Jahren versäumt hatte. Allerdings hat sich auch Vincent verändert. Die letzten beiden Wochen, bevor er starb, hat er immer wieder gesagt, dass ihm Engel erschienen wären. Mathilde, hat er eines Morgens gesagt, der Erzengel Gabriel hat heute Nacht in unserem Schlafzimmer gestanden, hast du ihn denn nicht bemerkt?« Sie seufzt. »Er, der nie in die Kirche gegangen ist, ein überzeugter Atheist, ein Nihilist sogar.« Wieder klimpern ihre Armreifen.
»Und was«, fragt er, »was sollte …«
»Was das mit dem Erzengel Gabriel bedeuten sollte?«, unterbricht sie ihn. »Das hat Vincent mir nicht gesagt. Obwohl ich in die Kirche gehe, jedenfalls früher und seit seinem Tod auch heute hin und wieder. Es muss etwas …«, sie wischt sich vorsichtig übers Auge. Noch eine Träne vielleicht. »… etwas Schlimmes gewesen sein. Etwas, das ihm Angst gemacht hat. In den letzten Tagen seines Lebens hat er mir verboten, nachts das Licht auszuschalten, weil er gehofft hat, dass er dann endlich den Engel sehen und mir zeigen kann. Eines Nachts bin ich neben ihm aufgewacht, und er hat zitternd im Bett gelegen und in die Luft gestarrt. Er ist da!, hat er geflüstert. Mathilde! Sieh doch, Erzengel Gabriel kommt in unserbescheidenes Heim!« Sie schüttelt wieder den Kopf. »Ich habe gesündigt, Mathilde. Ich habe Angst vor dem Jüngsten Gericht.«
»Was hat er damit gemeint?« Warum nur hat Sylvie ihm nichts davon gesagt? War es ihr unangenehm? Hat ihr Vater ihr Wahrheiten eröffnet, die sie besser für sich behalten wollte?
Mathilde sieht ihn schulterzuckend an. »Er wollte es mir nicht sagen. Vincent war nie bescheiden und auch kein ängstlicher Mensch. Im Gegenteil. Ich bin immer ängstlich gewesen, und dann hat er mich einfach in seine Arme …« Sie bricht ab, zieht fast lautlos die Nase hoch, ein kaum hörbares Weinen. »Vielleicht hatte er Angst, mich einzuweihen.«
Hinter den Scheiben erheben sich rechts schroffe, kahle Berge, während sich links unter ihnen das Häusermeer von Torremolinos – das hat er auf den Straßenschildern gelesen – und dahinter das glitzernde blaue Meer erstrecken. Großflächige Werbetafeln kündigen neue »Luxury-Homes« an, animieren zum Besuch eines Golfplatzes oder zum Anruf bei einem Immobilienmakler. Geteerte Straßen mit Laternen und Bürgersteigen winden sich den nackten Fels hinauf, zum Bau der Häuser ist es nicht mehr gekommen. Das Resultat von Baustopps, Korruptionsskandalen und Finanzkrise, denkt Ethan und sieht zum wiederholten Mal in den Außenrückspiegel. Ein schwarzer Mercedes mit getönten Scheiben und spanischem Kennzeichen ist seit einer Weile hinter ihnen.
»Was hat Ihr Mann eigentlich beruflich gemacht?«, fragt Camille von hinten, und Ethan ist ihr dankbar, dass sie das Thema anspricht, das Mathilde ihm gegenüber bisher immer recht schnell fallen gelassen hat.
»Hat Ethan Ihnen nicht …«, fragt Mathilde überrascht.
»Nein.« Er schüttelt den Kopf. »Außerdem weiß ich es selbst auch nicht so genau. Sylvie hat es mir nie richtig erklärt.«
Mathilde zögert, sie ist noch immer verwundert. »Tja, Vincent hat kaum über seine Arbeit gesprochen. Wenn er vonseinen Reisen zurückkam, wollte er mit mir ausgehen, sich amüsieren.« Sie zuckt mit der Schulter. »Wir hatten
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