Die Saat - Ray, F: Saat
und sofort hat er von Aamu geträumt, wie sie ihm ein Messer ins Auge sticht. Wenn er seine Waffe hätte mitnehmen können, würde er sich sicherer fühlen. Doch sie liegt unter Camilles Couchpolster.
»Ethan?«
Mathilde, blondiert und gebräunt, kommt mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. Noch nie hat er sie so herzlich erlebt, und instinktiv will er zurückweichen, doch sie hält ihn fest, drückt ihr Gesicht an seine Brust, sie, die sonst die Begrüßungsküsse an seinen Wangen vorbeigehaucht hat, sie, für die er immer nur der mittelmäßige Schriftsteller gewesen ist, der zu Hause herumhängt, während sich ihre Tochter in der Klinik für die Menschheit aufopfert.
Sie schluchzt. »Ich kann es nicht … fassen!« Ihr Parfüm und ihr Haarspray steigen ihm in die Nase, und ohne dass er es will, sucht er nach Gemeinsamkeiten mit Sylvie, nach etwas, das ihn an sie erinnert, doch Sylvie hat nie diese süßen, orientalischen Parfüms ihrer Mutter benutzt, nie die schrillen Farben und auch nicht den schweren Schmuck getragen. Und so sonnengebräunt und vollbusig ist sie auch nicht gewesen.
Mathilde löst sich von ihm, er reicht ihr ein Taschentuch. Sie nickt dankbar und tupft sich vorsichtig die Tränen ab. Jetzt erst bemerkt sie seine Verbrennungen und seine Pflaster im Gesicht und am Hals.
Sie zuckt zurück. »Was ist geschehen?«
»Ein Unfall. Es verheilt.« Ich bin davongekommen. Im Gegensatz zu Sylvie – oder zu Marc Bohin oder Professor Hirsch oder Dr. Antonelli oder Jérôme Frost … » Das ist Camille Vernet. Journalistin. Sie hilft mir, Sylvies Mörder zu finden«, sagt er und realisiert erst jetzt, als er den schockierten Ausdruck auf Mathildes Gesicht sieht, was er gerade gesagt hat. »Camille, das ist Mathilde Audry, Sylvies Mutter«, fügt er einfach hinzu, und ihm entgehen nicht die kurzen, skeptisch-prüfenden Blicke, mit denen sich die beiden Frauen abschätzend mustern, nachdem sie das Ritual des Wangenküssens hinter sich haben.
»Ethan, ich finde, es ist an der Zeit, dass wir du zueinander sagen.« Mathilde sieht ihn mit hochgezogenen Brauen an. »Sylvie hätte es sicher so gewollt.«
An der Zeit? Ist es dafür nicht schon zu spät?, könnte er nun antworten, aber er nickt nur, und sie drückt ihm nochmals einen Kuss auf jede Wange.
»Es weiß niemand, dass ich hier bin, oder?«, fragt er und umgeht das Du.
»Aber nein«, Mathilde sieht rasch nach rechts und links, »warum? Wirst du denn verfolgt?«
»Es sieht nicht so aus, oder?« Er ringt sich ein Lächeln ab und ignoriert Camilles Stirnrunzeln. Mathildes besorgter Blick bleibt noch einen Moment an ihm haften, dann seufzt sie und dreht sich zum Ausgang um. »Wir sind in zwei Stunden in Gibraltar.«
Er lässt Camille den Vortritt und folgt den beiden Frauen über die Straße zum Parkhaus, in den Aufzug und dann zu Mathildes Jaguar. Sylvies Eltern fuhren immer einen Jaguar, erinnert er sich. Dieser ist ein neues XK Coupé. Nachtblau. Sicher achtzigtausend Euro wert.
Du denkst nur ans Geld, hat Aamu gesagt. Man denkt ans Geld, wenn man immer hart dafür arbeiten musste, könnteer einwenden, aber was ist schon hart? Es gibt Menschen, die verdienen ihr Geld weitaus härter als er damals mit Gelegenheitsjobs und dann später mit Schreiben von Kurzgeschichten, Kurzkrimis und schlechten Liebesromanen.
Am Telefon hat er Mathilde gefragt, ob sie von einer größeren Geldsumme weiß, die Vincent Sylvie hinterlassen hat. Nein, sie weiß bloß von den hundertfünfzigtausend.
Mathilde lässt die Verrieglung aufspringen, er und Camille werfen ihr Handgepäck in den Kofferraum und steigen ein. Camille lässt ihn vorn sitzen. Mit einem leichten Vibrieren springt der Motor an, dann surrt er gleichmäßig und angenehm.
»Ich kann es einfach nicht fassen, dass Sylvie …« Mathildes goldene Armreifen klimpern wie helle Glöckchen, wenn sie den Gang wechselt.
Ich auch nicht, könnte er sagen, und dass er immer noch meint, in einem Albtraum gelandet zu sein. Er lehnt den Kopf an die Kopfstütze und atmet tief. Er muss wach bleiben. Auf alles gefasst sein. Auf den Tod, der überall lauern kann.
Geschmeidig gleitet der Wagen auf die Auffahrt zur Autobahn Richtung Cádiz und Algeciras. Die getönten Scheiben lassen den Himmel noch tiefer blau wirken, die Palmen am Straßenrand und die kargen, staubigen Berge links und rechts machen ihm klar, dass er in einer der trockensten und heißesten Regionen Europas angekommen ist. Auf der dreispurigen Autopista
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