Die Saat - Ray, F: Saat
schon Feierabend machen! Der Anrufbeantworter schaltet sich ein … in Notfällen rufen Sie … Sie drückt auf die Auflege-Taste. Im selben Moment hört sie den Schlüssel im Schloss.
»Quint hat über 39 Fieber!«, schleudert sie ihm entgegen.
»Steffi! Krieg ich nicht erst mal einen Begrüßungskuss?« Er hängt seine Jacke auf den Bügel an die Garderobe, schlingt den Schal über den Bügel. Jeder Handgriff wie immer, sie kann es nicht fassen. Sie würde ihm die Jacke am liebsten vor die Füße schleudern, damit er endlich kapiert, dass sie ernsthaft besorgt ist, dass sie Angst hat, dass … So langsam hat er sich noch nie ausgezogen, das macht er absichtlich, um mir zu zeigen, dass ich hysterisch bin. Sie gibt ihm seinen Kuss, obwohl sie jetzt einen Streit anfangen könnte, aber dazu haben sie keine Zeit. Es geht um Quint.
»Fieber?« Bernd bückt sich, um seine Schuhe auszuziehen. Und sie steht die ganze Zeit dabei, sieht ihm zu, wie er in seine Birkenstock-Hausschuhe schlüpft.
»Fieber ist gut, das zeigt, dass sich der Körper gegen die Viren wehrt.« Mit seinen zwei Metern Körpergröße und seinen hundert Kilo war er immer ein Fels in der Brandung, aber jetzt kommt er ihr vor wie ein träger, viel zu schwer beladener Kahn, der auf gefährliche Stromschnellen zutreibt …
»Aber er nimmt seit Mittwoch Antibiotika, da müssten die Viren doch schon längst …«, versucht sie es wieder.
»Schatz«, er beugt sich zu ihr hinunter und nimmt ihren Kopf in seine Hände, als wäre ich ein Kind, ein dummes Kind! »Antibiotika bekämpfen keine Viren. Nur Bakterien. In dem Fall womöglich Bakterien, in die sich die Viren verpackt haben. Die Viren muss das Immunsystem selbst bekämpfen.«
Bernd, der Ingenieur. Menschen sind keine Maschinen und keine Mikrochips, würde ich jetzt am liebsten sagen. Er gibt ihr einen Kuss auf die Stirn.
»Aber wir können doch nicht einfach nur … nur warten.«
Er seufzt. Mit schwerem Schritt geht er voraus, sei doch leise, will sie ihm hinterherrufen, aber das wäre sinnlos. Du musst ihn doch nicht mit Samthandschuhen anfassen, würde er sagen.
»Na, Partner, zu viel ferngesehen, was?« Bernd gibt dem Achtjährigen mit der Faust eine Knopfnuss.
»Sag mal, spinnst du?« Stefanie will auf ihren Sohn zustürzen, kann sich gerade noch zurückhalten. »Er hat Kopfschmerzen, ihm war schwindlig, da kannst du doch nicht …«
»Jetzt hab dich mal nicht so, er will wahrscheinlich nicht zur Schule, richtig, Partner?«
Quint verzieht das Gesicht, Stefanie weiß, dass er gleich losheulen wird.
»Bitte, Bernd, siehst du nicht, dass er krank ist?«
»Er ist ein Junge, Stefanie! Er kann doch wohl mal ein bisschen Kopfweh aushalten! He, Partner, dein Paps hat mal ’ne Gehirnerschütterung gehabt. Und weißt du wovon? Vom Fußballspielen. Ist mit einem Gegner zusammengeknallt. Aber«, und dabei hebt er beide Daumen in die Höhe, eine Geste, die Steffi hasst, »ich hab das Tor gemacht.«
Stefanie wendet sich ab. Seit einiger Zeit fragt sie sich immer öfter, wie sie mit Bernd die nächsten endlosen Jahre ertragen soll.
»Ich könnte ihm eine Benuron geben«, sagt sie mehr zu sich.
»Wenn du unbedingt meinst.« Er ist ein Junge, kann sie aus Bernds Stimme ablesen.
In der Hausapotheke im Badezimmer findet sie eine halb volle Packung. Bernd geht, als sie ihrem Sohn ein Zäpfchen gibt. Sie bleibt bei ihm sitzen, lauscht auf jeden Atemzug. Und tatsächlich beruhigt sich seine Atmung, und bald weiß sie, dass er schläft.
Ein warmer Schauer rieselt durch ihren Körper. Sie hat dieses wunderbare Kind vor acht Jahren geboren. Danach war nichts mehr so wie vorher. Erst mit der Geburt hat sie das Gefühl gehabt, dass sie mitten im Leben steht, dass sie ein Teil des Lebens, ein Teil der Welt ist. Behutsam streicht sie dem Kind über die Stirn. Kühler. Die linke Wange ist eindeutig kühler. Wie zart die Haut ist, und wie warm. Sie haucht ihm noch einen Kuss aufs Haar, ganz sachte, damit sie seinen Schlaf nicht stört, dann schleicht sie aus dem Zimmer und lässt die Tür angelehnt.
Wortlos geht sie an Bernd vorbei, der auf der Couch sitzt und fernsieht, räumt in der Küche das Geschirr in die Spülmaschine, legt eine Reinigungstablette ein und drückt auf den Startknopf. Eine Weile lehnt sie einfach nur an der Arbeitsfläche und starrt auf die hellen Fliesen. Drei Mitschüler sind wegen Kopfschmerzen und Schwächegefühl seit Mittwoch zu Hause geblieben. Karls Mutter meinte, es wäre die
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