Die Saat - Ray, F: Saat
Lejeune sie an.
»Was ist passiert?«, fragt Camille. Das sollten Sie wissen, hätte ich sagen sollen.
»Ich stelle hier die Fragen.«
»Er ist eine Zigarette rauchen.« Etwas Besseres fällt ihr nicht ein.
»Und wo sind Sie?«, will Lejeune wissen.
Sie überlegt nur Sekunden. Offenbar hat Lejeune Ethan verloren. »Er war die ganze Zeit bei mir.« Vertraulich fügt sie hinzu: »Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Ohne Lejeunes Antwort abzuwarten, legt sie auf. Die Salamander, deren Gehirn man durch den Fleischwolf gedreht hat, kommen ihr wieder in den Sinn. So ungefähr muss es sich anfühlen …
Fünfter Teil
1 Montag, 7. April
Berlin
Den ganzen Tag lang hat die graue Wolkendecke die Stadt in eine vage Helligkeit getaucht, nun, am Abend, sorgt sie für einen lang andauernden farbenprächtigen Sonnenuntergang. Stefanie Rademacher versucht, ihre Sorgen zu unterdrücken, die sie schon den ganzen Tag im Büro der Stadtsparkasse geplagt haben und sie nicht konzentriert arbeiten ließen. Er hat sich wohl erkältet, meinte Bernd noch am Dienstag, als Quint zitternd und schweißgebadet im Bett aufwachte. Die nächste U-Bahn-Station ist ihre, Senefelder Platz, stellt sie am Rosa-Luxemburg-Platz erleichtert fest. Sie erträgt ihn heute kaum, den Geruch der Menschen nach einem Arbeitstag in Büros, Geschäften, Cafés, Restaurants, Banken, Imbissbuden, Reinigungen … Die Aufzählung lenkt sie ab. Eigentlich müsste sie als Buchhalterin statt der Wörter Zahlen benutzen, denkt sie oft, aber Zahlen machen sie nervös, sie stellen Fragen, wollen addiert, multipliziert, subtrahiert und dividiert werden, sie lassen sie nicht in Ruhe wie Wörter, in die Stefanie sich wie in ein warmes Nest aus Kissen und Decken fallen lassen kann.
»Eine Grippe, es geht gerade was um in den Berliner Schulen«, meinte Dr. Paulsen, ihr Kinderarzt, und verschrieb Antibiotika. Das war am Mittwoch. Jedes Mal, wenn Quint krank ist, verflucht sie ihren Job. Mittwoch bis Freitag hat sie sich freigenommen, aber heute war nicht drin. Nicht wenn das Kind eine Grippe hat. Und jedes Mal ärgert sie sich über Bernd, der es kategorisch ablehnt, in solchen Fällen bei Quint zu bleiben. Ich bin zu wichtig, Spatz, und mein Gehalt ist nun mal höher als deins. Und dann dieses Grinsen. Du hast das Kind gewollt, fügt er manchmal noch hinzu – womit er recht hat.
Dass er seinen Job bei Siemens jeden Tag verlieren kann, sagt er nicht. Aber sie wissen es beide.
Sie ist als Erste durch die U-Bahn-Tür und hastet hinauf an die Oberfläche. Kurz nimmt sie den violett-orange glühenden Himmel wahr, den grauen Beton, die gehetzten Gesichter, dann denkt sie schon wieder an Quint und an die Nachbarin aus dem zweiten Stock, Frau Prochnowski, die sie vier Mal vom Büro aus angerufen hat, um sich nach Quint zu erkundigen. Prochnowski … Ski … Berge … Schnee … assoziiert sie, doch Bernds Worte drängen aus der Erinnerung hervor: Du bist hysterisch! Das hat er gesagt, als sich Quint vor zwei Jahren beim Toben das Schlüsselbein gebrochen hatte.
Die kurze Strecke von der U-Bahn-Station in die Kollwitzstraße erscheint ihr heute endlos, sie schwitzt in Kostüm und Mantel, und ihre unbequemen Schuhe drücken mit jedem Schritt noch ein wenig mehr.
Frau Prochnowski hat Quint in sein Bett gelegt und das Babyfon angestellt. Am Vormittag war er bei ihr, am Nachmittag brachte sie ihn hoch in ihre Wohnung und sah jede Stunde nach ihm. Mehr kann Stefanie nicht verlangen von einer Nachbarin, die nichts dafür haben will.
»Na, Bärlein?« Ganz vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, hat sie sich auf die Kante des Kinderbetts gesetzt und streicht über sein blondes Haar. Er atmet schnell, und sein Gesicht ist erhitzt. Als sie seine Stirn berührt, erschrickt sie, wie heiß sie ist. Sofort schießen die Schuldgefühle wieder in ihr hoch. Sie hätte heute daheim bleiben sollen, ohne Rücksicht auf ihren Job.
Er schlägt die Augen auf.
»Ich bin wieder da. Es wird alles gut, mein Bärlein.« Das fiebrige Flackern in seinem Blick gefällt ihr nicht. Sie greiftzum Fieberthermometer, das noch genauso wie heute Morgen daliegt. Frau Prochnowski hat sich wohl auf die einfachere Art einen Eindruck von seiner Temperatur gemacht.
»Komm, Bärlein, mal Fieber messen.«
39,1 zeigt das digitale Thermometer. Sie muss etwas unternehmen, noch im Mantel ruft sie Dr. Paulsen von ihrem Handy aus an. Halb sieben. Er muss doch noch in der Praxis sein. Um diese Uhrzeit kann ein Arzt doch nicht
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