Die Saat - Ray, F: Saat
Ethan sitzt auf dem Louis-XIV.-Stuhl, die Ellbogen auf die Oberschenkel und den Kopf in die Hände gestützt, und starrt auf die im Sonnenstrahl schwebenden Staubkörnchen.
Sie haben sie abgeholt, ihren Körper weggeschafft, ihm Fragen gestellt zu Sylvies psychischer Verfassung und zu ihrer Ehe. Er kann die Fakten drehen und wenden, wie er will, Tatsache ist: Sie hat sich umgebracht und einen rätselhaften Abschiedsbrief hinterlassen. Ein Hinweis auf ein Bibelzitat. Dabei war sie nicht religiös, zumindest nicht das, was man gemeinhin unter religiös versteht. Sie ging weder in die Kirche, noch redete sie vom Paradies oder von Gott. Sie glaubte – ja, an was? Hin und wieder hatten sie darüber gesprochen. Über das, was wohl nach dem Tod käme, ob überhaupt etwas danach käme. Besonders nach dem Tod ihres Vaters im letzten Dezember hatte sie ein paar Mal dieses Thema angeschnitten. Er war wohl am Ende wieder religiös geworden. Am Ende finden sie alle zu Gott, hätte seine Mutter gesagt.
Sylvie, du hast mich nicht genug geliebt, sonst hättest du das nicht getan! Der Blick eines der Polizisten hat genügt, um Ethan klarzumachen, dass auch dieser genau das dachte, dass Ethan Sylvie wahrscheinlich nach Strich und Faden betrogen hatte, dass ihre Ehe schon längst am Ende gewesen sein musste … Natürlich würde es eine genaue polizeiliche Untersuchung geben, vergaß der Polizist nicht, zu erwähnen.
Hat er etwas übersehen? Depressionen? War er so mit seiner Arbeit beschäftigt? Oder aber … wenn sie eine unheilbare Krankheit gehabt hätte, dann hätte sie ihm das doch gesagt, sie haben doch sonst über alles geredet. Außer in den letztenMonaten, muss er einräumen, als er mit den letzten Überarbeitungen des Buchs beschäftigt und danach in ein tiefes Loch gefallen war.
Sylvies Seele füllt den Raum aus, er spürt es. Sein Gehirn ist leer, alle Kontakte sind gerissen. Er hat kein Handlungsmuster parat. Ich muss ihre Mutter in Marbella anrufen. Mathilde. Erst Vincent, dann Sylvie! Ethan, womit hab ich das verdient? Dann wird sie ihm Vorhaltungen machen. Er stellt sich vor, wie sie ihn ansieht, ihn immer angesehen hat. Was machst du gerade, Ethan? Schreiben? Ja, ja, wer schreibt, der bleibt, nicht wahr? Ihr falsches Lachen, zu laut, zu hell, ihre falschen Wimpern, ihr blondiertes Haar, das glattgezogene Gesicht, der gestraffte Hals. Mir ist es unbegreiflich, Ethan, dass ein Ehemann …, würde sie sagen, und wie immer würde Ethan sie am liebsten an ihren sonnengebräunten Schultern packen und schütteln, damit sie auch noch den Rest des Satzes ausspuckt. Und es ist mir auch unbegreiflich, warum du als ihre Mutter, wo ihr fast jeden Tag miteinander telefoniert habt, warum du nichts gewusst hast! Sie würde mit den Fingerspitzen an ihre Schläfen tippen, als empfinge sie schmerzhafte Radiowellen aus dem Jenseits. Nein, er kann Mathilde jetzt nicht anrufen. Später.
Irgendwo klingelt sein Handy. Er braucht einige Sekunden, um es in seiner Jacketttasche zu orten.
»Ist das die Nummer von Dr. Sylvie Harris?«, fragt eine männliche Stimme mit einem weichen Akzent.
»Wer spricht da?«
»Jean Ercilla, Restaurant Nectar.«
Was will der Typ? Ich habe keinen verdammten Tisch bestellt! Er will ins Telefon brüllen, man soll ihn gefälligst in Ruhe lassen. Seine Frau ist gerade gestorben. Doch er sagt: »Ja?«
»Madame Harris hat am Freitagabend etwas liegen lassen. Sie kann es abholen. Wir hatten gestern geschlossen, und unsere Putzfrau hat es erst jetzt gefunden.«
»Madame Harris? Sind Sie sicher?« Das muss eine Verwechslung sein. Falsch verbunden! Sylvie war doch nicht …
»Nun, auf ihren Namen wurde der Tisch reserviert.« Einschmeichelnde Stimme, aalglatt.
Was sollte Sylvie im Restaurant, allein?
»Sylvie Harris?«
»Nun, Monsieur, ich habe nur den Namen und diese Telefonnummer.«
Szenarien bauen sich auf. Wieso und vor allem mit wem war Sylvie essen?
»Danke, ja. Ich richte es ihr aus. Ihre Adresse?«
»Rue Tangérine.«
Freitagabend. Sylvies letzter Abend in diesem Leben. Der Tod soll am Samstagabend gegen neunzehn Uhr eingetreten sein, hat der Polizist gesagt. Sie war am Freitag also essen. Ohne ihn. Der Abgrund, an dem er steht, wird noch dunkler und tiefer. Man geht nicht allein essen. Jedenfalls Sylvie nicht. Vielleicht ist ja etwas an diesem Freitagabend passiert, und sie hat sich deshalb das Leben genommen? Er steht auf, sein linkes Bein ist eingeschlafen, es kribbelt. Mit wem war sie
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