Die Saat - Ray, F: Saat
essen?
Nach wenigen Minuten steht er unten auf der Straße, hält Ausschau nach einem Taxi. Er könnte auch den Wagen nehmen, aber das schafft er jetzt nicht. Es ist Sylvies Auto, mit dem sie jeden Tag in die Klinik gefahren ist. Er muss bis zur Ecke laufen, bis ein Taxi anhält. In dem Augenblick, in dem er die Autotür zuschlägt, begreift er, dass sein Leben in zwei Teile zerfallen ist, in ein Davor und ein Danach. Und erst jetzt, danach, versteht er allmählich, wie viele Chancen sie verpasst haben. Wie oft haben sie sich über Belangloses gestritten …
Wieso hat sie sich einfach umgebracht? Sie hätte ihn doch nur anrufen müssen! Er wäre sofort gekommen, oder etwa nicht? Als sie die Tabletten genommen hat, war er gerade mitten in der Lesung. Wäre er denn wirklich aufgestanden, sofortzum Flughafen Heathrow gefahren und nach Paris geflogen? Ethan sieht aus dem Seitenfenster. Sonntagabend. Überall in den schmalen Straßen des Quartier Latin schlendern Menschen an den Läden und Cafés vorbei, ihr Anblick macht ihn wütend. Wieso dürfen sie glücklich sein, während er leidet? Warum hat ihn das Schicksal getroffen?
Lag es an dieser Reise, weil er sie nicht verstanden hat? Uganda. Er war dagegen gewesen. Wieso, was willst du dort? Du arbeitest doch auch hier als Ärztin. Warum dort? Du setzt dein Leben aufs Spiel da unten! Du weißt am besten, welche verdammten Krankheiten du dir da holen kannst. Was ist, wenn dich ein Verrückter mit Aids infiziert? Da unten haben sie doch alle Aids!!
Sie stand einfach nur da, auf dem Dachgarten neben der Japanischen Kirsche, die noch ganz kahl war. Sie hatte alles schon klargemacht für April. Das Gespräch war reine Formsache. Entschieden hatte sie allein. Warum tust du das, fragte er sie. Weil jemand Verantwortung übernehmen muss, sagte sie. Dann drehte sie sich um, ging hinein, und kurz darauf hörte er die Wohnungstür zufallen. Von oben sah er sie dann aus dem Haus gehen. Es war ein Sonntagmorgen, erinnert er sich, in der Luft lag eine feuchte Kälte, die Schnee ankündigte, ein grauer, flirrender Dunst, vermischt mit dem Geruch nach Autoabgasen und verbranntem Heizöl. Er sah sie ins Auto steigen, sah sie beim Ausparken an den hinteren Wagen stoßen, wie immer, er hatte sogar darauf gewartet, und als sie es tat, hätte er vor Wut und Trauer schreien können. Etwas war zwischen sie geraten, etwas Sperriges, Durchsichtiges, das sie voneinander trennte. Wenn er nur wüsste, was es war. Am Abend hat er sie nicht gefragt, wo sie gewesen ist. Er hat geschwiegen und getan, als hätte er noch nicht einmal bemerkt, dass sie zurückgekommen war.
13
Die Wohnung von Professor Jérôme Frost in der Rue des Saints Pères im 6. Arrondissement befindet sich im dritten Stock eines um 1800 erbauten, komplett restaurierten Wohnhauses, dessen quadratischen Innenhof der Hausbesitzer in einen Zen-Garten verwandelt hat. Der helle Kies ist in wellenförmige Linien gerecht, und in der Mitte wächst ein Nussbaum.
Inspecteur Irène Lejeune sieht durch die hohen Fenster hinunter auf die gezwirbelten Zweige, an denen hellgrüne Blätter im sanften Wind schaukeln. Ein Sonnenstrahl fällt über die Ziegeldächer und bricht sich im kleinen Teich, auf dem Seerosenblätter treiben. Schön! Jérôme Frost hat vielleicht noch am Samstagmorgen genau hier gestanden und die Ruhe auf sich wirken lassen. Er hat sich auf seinen Arbeitstag gefreut, weil ihm seine Arbeit grundsätzlich Freude macht, weil sie ihn befriedigt, sein Leben bestimmt und erfüllt. Ein glücklicher Mensch, womöglich! Er hat nicht ahnen können, dass es sein letzter Arbeitstag sein würde. Angesichts des geschmackvoll eingerichteten Appartements und der kultivierten Umgebung kommt Lejeune die Schändung des Leichnams noch grausamer vor. Der winzige Rattenkopf auf Professor Frosts Körper, die roten Augen schieben sich wie ein Dia vor ihren Blick.
»Hätten wir gleich herfahren sollen?«
Als sie Davids Stimme hört, dreht sie sich unwillkürlich um. Sie sind zu spät gekommen, ja. Ihr Blick wandert über die aufgeschlitzten tabakbraunen Ledersessel, die aus den Regalen gefegten Bücher auf dem dicken sandfarbenen Teppichboden und über die Backsteinwand mit dem grün leuchtenden Satz:
Tod den Gottesverächtern
Sie steckt die Hände in die Taschen ihres Trenchcoats und schüttelt den Kopf. »Wir sind meistens zu spät, das ist unser Schicksal.« Wieder fällt ihr Davids Sweatshirt auf. »Übrigens, ich finde das in diesem Fall
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