Die Saat - Ray, F: Saat
Nicolas seinen Blick nochmals durchs Zimmer gleiten lässt, fällt ihm auf, dass sein Laptop verschwunden ist.
»Jean-Marie?« Seine Stimme hört sich fremd an. Er lauscht. Doch er hört nur das Rauschen des Straßenverkehrs. Wieder hämmert sein Herz, wieder bricht ihm der Schweiß aus, während die Bilder der Nacht bunt und schrill vor seinen Augen tanzen. Keine Sekunde länger kann er es hier aushalten. Der Mörder ist noch nicht fertig, das wird Nicolas jetzt klar, er lauert irgendwo. Er war schließlich Augenzeuge! Er stürzt ins Schlafzimmer, zerrt seine unechte Louis-Vuitton-Reisetasche aus dem Einbauschrank, reißt Schubladen auf, stopftUnterwäsche, T-Shirts und einen Pulli hinein, zieht wahllos drei Hosen von den Bügeln, legt einen stets fertig gepackten Kulturbeutel zu den Sachen, macht den Reißverschluss zu, tastet in seiner Jackentasche nach Geldbörse und Kreditkarten, erinnert sich an den Reisepass in der Schreibtischschublade, steckt ihn ein, hastet aus seinem Appartement, wirft die Tür hinter sich zu und rennt aus dem Haus. Weg, weit weg! Erst am Ende der Rue Le Prince wagt er, stehen zu bleiben und nach Luft zu schnappen.
Das Leuchtschild eines Taxis nähert sich. Als er sich auf die Rückbank sinken lässt, wirft er noch einen Blick zurück. Er ist sich nicht sicher, ob die dunkel gekleidete Gestalt, die zwischen den Autos hindurchschlüpft, aus seinem Haus oder aus dem Nebenhaus gekommen ist. Er dreht sich zur anderen Seite, doch er kann die Gestalt nicht mehr ausmachen, als hätte sie sich beim Überqueren der Straße einfach aufgelöst. Ein Zittern überfällt ihn, er muss seine Hände festhalten. Du bildest dir das alles ein!
»Fahren Sie los!«, befiehlt er dem Fahrer, der einfach nur nickt, den Gang einlegt und Gas gibt. »Fahren Sie!«
Marc fällt ihm ein, er wird ihn verstehen! Er weiß, wie es ist, wenn man Angst hat. Drogentrips. Am Ende hat er sich vor der kleinsten Ameise gefürchtet! Die Erinnerung bahnt sich ihren Weg an die Oberfläche, wie ein unterirdischer Strom, der irgendwo ans Tageslicht drängt, unaufhaltsam. Er ist mit Marc von einer privaten Party auf dem Weg nach Hause. Es ist kein Taxi zu kriegen, und sie schlendern durch die Straßen, voll bis oben hin, auch Nicolas. Plötzlich hören sie ein Quietschen, und sie bleiben stehen. Es stinkt nach Müll, vor ihnen türmen sich die dunklen Schatten von großen Mülltüten vor einem asiatischen Restaurant auf. Und da hockt sie: eine große fette Ratte, mitten auf einer der Tüten. Sie ist gerade dabei, sich durchs Plastik zu fressen. Marc fängt an zu schreien, rennt los, so schnell, dass Nicolas Mühe hat, ihm zu folgen.Irgendwann stolpert Marc und bleibt regungslos liegen. Ein Jahr Entzug. Dann hat er den Hof seiner Eltern übernommen. Jetzt baut er Biogemüse an. Zieht Biorinder auf. Macht Biokäse.
»Wissen Sie jetzt, wo es hingehen soll?«, reißt ihn die Stimme des Fahrers aus seinen Gedanken.
»Zum Bahnhof.«
»Zu welchem, Monsieur?«
»Ich muss nach Caen.« Marc soll ihn abholen. Er tastet in der Außentasche seines Jacketts nach seinem Handy. Da stoßen seine Finger an etwas anderes. Der Memorystick! Das silberfarbene spatelförmige Stück Plastik enthält nichts Geheimes. Nicolas war bei allen Versuchen dabei. Harmlose Versuche zur Verträglichkeit verschiedener Nahrungsmittel . Verdammt, wie soll man in einer Stadt wie Paris ohne Geld anständig leben können? Es wäre eine Gelegenheit, völlig ungefährlich, hat der Typ gesagt. Schließlich arbeitet Professor Frost nicht an der Entwicklung einer Atombombe, nicht wahr? Da hat Nicolas genickt. Die Zahlungen kamen prompt, jeden Monat, wenn er einen Stick mit den neuen Daten mitbrachte. Ein Student mit Brille und Pferdeschwanz. Wie sie in den Dotcom-Firmen in Kalifornien rumlaufen, jedenfalls im Film. Nenn mich Paul, klar? Nicolas hat einfach genickt und den Umschlag mit dem Geld genommen. Acht Mal. Acht Monate lang. Er lässt den Stick wieder in die Tasche gleiten. Seine eigene Kopie der Kopien. Weil er sich immer und grundsätzlich Kopien macht. Weil man ihm seine Spielsachen weggenommen hat, weil er immer zu wenig von allem hatte. Na ja, und was irgendjemandem tausendfünfhundert Euro im Monat wert ist, könnte ihm selbst ja vielleicht auch mal nützlich sein, hat er gedacht.
Sind sie deswegen hinter ihm her?
12
Kurz vor 17 Uhr. Ein Bündel blassgelber Sonnenstrahlen fällt schräg durch die Terrassentür ins Schlafzimmer und streift die Ecke des Bettes.
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