Die Saat - Ray, F: Saat
schlachtet keine Ratte und schlägt ihr den Kopf ab, oder?«, sagt er.
»Ja, und unser Täter hat die Ratten nicht befreit. Er hat sie auf ein Dach gebracht, wo sie nicht weglaufen konnten. Also kein Tierfreund. Feind der Gentechnik, ja. Aber warum ausgerechnet Professor Frost mit seinen Untersuchungen?« Siestellt ihre Tasse zurück zur Maschine. David sieht auf seine Armbanduhr, nur kurz, aber Lejeune hat es bemerkt.
»Wenn Sie eine Verabredung haben, sagen Sie lieber jetzt gleich ab. Wir fahren in Professor Frosts Wohnung.«
Er presst die Lippen aufeinander, hebt die Augenbrauen. »Ich hab sie erst letztes Wochenende kennengelernt.«
Sie ignoriert seinen Einwand. »Freundinnen kommen und gehen, David. Entweder hält sie es aus, oder sie verabschiedet sich sofort.« Davids beleidigtem Blick begegnet sie mit einem Schulterzucken. Warum soll er es besser haben als ich? »Was soll ich da erst sagen, David? Mein Leben ist viel komplizierter.«
Sie nimmt ihren Trenchcoat von der Stuhllehne und wirft David die Autoschlüssel zu.
10
Nur wenige Schritte. Einfach nur über die Brüstung. Sechs Stockwerke überlebt niemand. Ethan geht zum Geländer des Dachgartens und sieht hinunter. Eine Frau schiebt einen Kinderwagen über den Bürgersteig. Sie trägt einen roten Schal und einen blauen Mantel, ihr glattes dunkelblondes Haar weht im kalten Wind. Vielleicht geht sie in den Park, der Jardin du Luxembourg ist ja nur ein paar Ecken entfernt. Ähnelt sie nicht Sylvie? Am Himmel ziehen unförmige graue Wolken vorbei, darüber hängt noch eine graue Wolkenschicht. Vielleicht träumt er nur, ist in seinen Fantasien und in seiner Einbildung gefangen, und er muss sich nur umdrehen, und alles ist wie vorher, wie immer, wenn er von einer kurzen Reise kommt oder auch nur von einem Gang in die Stadt. Es gibt Situationen, von denen wir annehmen, sie sind real, aber sie sind es nicht. Manchmal glaubt er, dass er etwas gelesen hat, dabei hat er es sich so ausgedacht. Für viele Berufe kann dieses Phänomen äußerst lästig und hinderlich sein. EinemSchriftsteller ist es willkommen. Hör auf, dreh dich um! Die Frau mit dem Kinderwagen ist hinter der Straßenecke verschwunden. Ein blauer Mercedes rangiert in eine enge Parklücke zwischen zwei weißen Autos. Wenn der Fahrer geschickt ist, kann er es sogar schaffen. Du machst dir etwas vor! Sieh hin! Nein, er will sich nicht umdrehen, will lieber auf die Straße starren, oder in den Himmel, in die Wolken. Sein Mund ist trocken, in der Kehle verspürt er einen Druck, unter den Achseln rinnt unangenehm kitzelnd der Schweiß. Wenn ich schon gestern Abend geflogen wäre, hätte ich es verhindern können!
Er muss es tun, es gibt keinen Ausweg, er muss sich umdrehen. Vielleicht, vielleicht ist alles nur ein Traum … und das Bett ist unberührt, die helle Tagesdecke mit den Goldfäden liegt ordentlich über das Doppelbett gebreitet, die voluminösen Kissen, auch sie von goldglänzenden Fäden durchwirkt und zusätzlich mit Quasten versehen, thronen aufgeschüttelt am Kopfende, über dem eine chinesische Tuschezeichnung hängt, die sie beide, Ethan erinnert sich genau, vor vier Jahren auf dem Trödelmarkt gekauft haben. Er nimmt die Hände vom Geländer, sie sind ganz kalt und weiß, so fest hat er sich ans Metall gekrallt, und dreht sich um. Von hier aus kann er hinein ins Schlafzimmer sehen. Auf dem Fußboden liegt sein Blumenstrauß. Die Tagesdecke ist über das Fußende nach unten aufs Parkett gerutscht, liegt dort wie eine abgestreifte Haut, und unter der schneeweißen Wolldecke zeichnen sich Beine und Körper von Sylvie ab, ihr Kopf auf dem Kissen liegt auf ihrem dunkelblonden Haar mit den helleren Strähnen, er ist ein wenig nach rechts, zum Fenster gedreht, als hätte sie bis zuletzt da hinausgesehen. Langsam geht Ethan hinein. Es ist unvermeidlich. Ihre Augen sind offen, aber er hat die Hoffnung aufgegeben, dass sie gleich mit ihm sprechen wird. Denn ihre Haut ist bleich und durchscheinend wie dünnes Porzellan, und unter dem rechten Arm, der über den Bettrand hinausragt, hat sich eine große, dunkle Lache auf dem Fußboden gebildet. Querüber dem Handgelenk klafft ein tiefer Schnitt mit getrocknetem Blut, und auch die Decke unter dem linken Handgelenk ist tiefrot getränkt. Auf dem Nachttisch aus weißem Lack steht ein Glas mit dem Rest einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit, daneben eine bis auf die letzte Tablette ausgedrückte Packung Valium und eine halb leere Flasche Louis Royer
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