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Die Saat - Ray, F: Saat

Die Saat - Ray, F: Saat

Titel: Die Saat - Ray, F: Saat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fran Ray
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stockt.
    Er betrachtet sie. Das Licht von oben lässt sie noch deprimierter aussehen. Ihre Augenringe sind tiefer und dunkler geworden, seitdem er sie das letzte Mal gesehen hat. Auf Sylvies Geburtstag im Februar. Sie arbeitet zu viel und vor allem nachts, weiß er. Übersetzungen. Philosophie, Esoterik – Themen, von denen er nichts versteht. Französisch, Polnisch, Deutsch. Er kann sich nicht daran erinnern, wo die beiden sich kennengelernt haben. Ihre Hand legt sich auf seine, kalt und starr, dabei will sie ihn trösten. Er unterdrückt den Reflex, seine Hand wegzuziehen. Einmal waren sie zu dritt in einer Bar, fällt ihm jetzt ein, und nach dem dritten oder vierten Cocktail rückte Sarah immer näher an ihn heran, rieb sich an ihm – Sylvie tat so, als würde sie es nicht bemerken, und er sprach es auch später nie an. Jetzt zieht er die Hand doch weg.
    »Hat Sylvie irgendwann mal etwas von einem Liebhaber erzählt?«, fragt er sie.
    Der mitfühlende Blick ist verschwunden, die grauen Augen mustern ihn skeptisch, genauso wie die des Katers.
    »Wieso?«
    »Sie hat sich am Freitagabend mit einem Mann in einem Restaurant getroffen.«
    »Deshalb hat sie also abgesagt …«, murmelt sie.
    Sie fühlt sich betrogen. Betrogen von Sylvie. So wie ich. »Hat sie denn keinen Abschiedsbrief …«
    »Nein.«
    »Sie war meine beste Freundin. Auch wenn wir uns in der letzten Zeit nicht ganz so oft sehen konnten.«
    Er hört sie kaum, so leise spricht sie. Eine Weile starrt er einfach auf die weiße Tischplatte, betrachtet die getrockneten Teeränder darauf und den Spalt, in den Flüssigkeit gelaufen ist, sodass das Holz aufgequollen und die Oberfläche schließlich geplatzt ist.
    »Hat sie denn irgendwann mal was über mich …«, will er wissen. »War sie unglücklich mit … mit unserem Leben?«
    Ihre eckigen Schultern hat sie fast bis zu den Ohrläppchen hochgezogen. Dass sie täglich sieben Kilometer mit iPod im Ohr läuft, hat ihm Sylvie erzählt, und dass sie an verrückten Megamarathons teilnimmt, wie hundert Kilometer durch die Wüste …
    »Ich weiß nicht …«, unterbricht sie seine Gedanken.
    Ist doch er schuld?
    »Nein«, sie streicht sich müde eine Strähne hinters Ohr, »ich meine, klar, hin und wieder hat sie sich darüber beklagt, dass du so oft nicht zuhörst, dass du immer an dein Buch denkst.« Die Finger der rechten Hand haken sich in die der linken, wie ein Freeclimber an einem Felsvorsprung. Da erinnert er sich, dass sie Sylvie und ihn einmal zum Klettern mitnehmen wollte. Doch sie lehnten ab, sie litten beide unter Höhenangst.
    »Du meinst, sie hat sich deswegen umgebracht?«, schießt es aus ihm heraus. »Wegen mir?«
    »Nein, aber nein, Ethan!« Verständnislos und erschrocken schüttelt sie den Kopf. »Es tut mir leid, es muss schrecklich für dich sein.«
    »Ja.«
    In der Wohnung über ihnen werden Stühle gerückt, von unten hört er ein schepperndes Geräusch. Die Küche geht zum Innenhof hinaus, fällt ihm ein, dort stehen die Mülltonnen. Er sollte gehen.
    »Ich muss los.«
    »Warte, Ethan. Du kannst … hier schlafen, wenn du willst.«
    »Danke, aber …« Er steht auf. Der Kater springt von ihrem Schoß.
    »Bist du sicher?«
    »Ja.«
    Sie folgt ihm durch den Flur. Zum ersten Mal bemerkt er die Hochglanzfotos an den Wänden. Gleißende Eisberge vor glitzernd blauem Wasser, eine afrikanische Savannenlandschaft mit einer Herde äsender Gnus, Mangroven, die sich im Wasser spiegeln, blühende Kakteen in einer Wüste. Er dreht sich zu ihr um. »Keine Menschen.«
    Ihr Blick wandert versunken über die Bilder. »Nein, keine Menschen«, sagt sie leise.
    Etwas in ihm will sie umarmen, aber da schlingt sie schon selbst die Arme um sich. Besser so. Er will nicht weinen. Nicht in ihren Armen. Nicht in den Armen von irgendjemandem. Wenn er weint, wird alles zusammenstürzen, weiß er. Also geht er zur Tür.
    »Untersucht die Polizei den Fall?«, fragt sie.
    Etwas überrascht, ja irritiert ihn an dieser Frage. Er nickt. »Ja.«
    Auch sie nickt. »Wenn du Hilfe brauchst …«, sagt sie noch, als er schon im Treppenhaus steht. Sie klingt zu mutlos, als dass er tatsächlich wagen würde, ihr Angebot in Anspruch zu nehmen. Erst als er schon einen Stock weiter untenangekommen ist, hört er, wie sie die Tür schließt. Nein, er will nicht glauben, dass sich Sylvie umgebracht hat, weil er zu wenig Zeit hatte. In seiner Manteltasche sind noch immer die verdammten Handschuhe. Er wird den Kerl finden und dann

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